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Arbeitsstörungen

Die lange Bank ist des Teufels liebstes Möbelstück

Von Hans-Werner Rückert

Wer von uns träumt nicht davon, angenehme Herausforderungen wie lästige Pflichten im Vorbeigehen zu erledigen, selbstvergessen, ganz fokussiert und entspannt zugleich. Für viele bleibt das eine Wunschvorstellung. Tatsächlich quälen sie sich durch Aufgaben, die Gedanken schweifen ab, die Konzentration schwindet, die Unlust wird immer größer, und schließlich gehen sie aus dem Feld und erledigen etwas ganz anderes, beispielsweise den ungeliebten Abwasch. Nach einigen Wochen, Monaten oder Jahren dieses stets wiederkehrenden Musters fragt sich manch einer beklommen: „Habe ich etwa eine Arbeitsstörung?“

Was sind also Arbeitsstörungen? Sie haben eine Arbeitsstörung, wenn Sie unfähig sind, von Ihnen selbst als wichtig oder notwendig benannte Aufgaben ohne massive Unlustgefühle oder psychosomatische Nebenerscheinungen in einer der Aufgabe angemessenen Zeit zu erledigen.

Manche Arbeitsstörungen sind unausweichliche Folge fehlender oder unzureichender Voraussetzungen und sollen uns hier nicht weiter beschäftigen. Uninteressant sind Störungen, die auf Dummheit beruhen oder – wissenschaftlich ausgedrückt – auf einem suboptimalen Intelligenzniveau. Wenig spannend sind auch die Folgen von Unwissenheit, sei es, dass Skills fehlen, also Wissen darüber, wie man etwas macht, oder Bewältigungsfertigkeiten, also Wissen darüber, was man tut, wenn Probleme bei der Erledigung auftauchen. Faulheit ist nicht wirklich interessant, auch wenn sie in der Psychologie als Konstrukt der „Anstrengungsvermeidung“ konzeptualisiert wird. Energieverarmung aufgrund irgendwelcher, möglicherweise depressiver Erkrankungen als Quelle für Arbeitsprobleme ist hier ebenfalls unergiebig.

Und schließlich geben auch Konzentrationsstörungen nicht viel her, weil sie so einfach zu beheben sind: Sie bedeuten nur, dass anderes sich aufdrängt als das, woran man denken möchte. Die störenden Gedanken und Impulse sollte man dann in einem Heft notieren, damit man sie aus seiner aufgabenorientierten, kognitiven Einstellung entfernt. Auf diese Weise kann man viel über sich lernen, über das, was einen eigentlich beschäftigt, während man arbeiten will („Life is what is happening to you while you are busy making other plans“, sagte John Lennon dazu).


Augen zu – und durch
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Hoch interessant hingegen ist die so genannte Prokrastination. Das lateinische Wort „crastinus“ steht für morgig, „pro“ für vorwärts. „Rem in crastinum differe“ heißt: eine Sache auf morgen verschieben. Der Franzose, der aufschiebt, frönt der „Procrastination“, unter der das französische Wörterbuch die Tendenz versteht, alles auf morgen zu verlegen. Im angloamerikanischen Sprachraum heißt der Sachverhalt ebenso. In Universitäten dort kann man sich T-Shirts kaufen, mit der Aufschrift „I am a procrastinator“ und sich auf diese Weise outen. Die akademische Society neigt dazu, Aufschieben zu entschuldigen, aber Aufschieber sind nicht besonders beliebt.

Prokrastination, die als Phänomen an der Schnittstelle zwischen Aufgaben, Motivation und Persönlichkeit auftaucht, ist aus drei Gründen besonders interessant:

  • Man befindet sich in anregender Gesellschaft von Menschen, die anspruchsvolle Ziele verfolgten (und zum Teil auch erreichten, wenngleich nach langer Zeit: Marcel Proust, Harold Brodkey, Guiseppe Tomasi di Lampedusa oder Leonardo da Vinci).
  • Die Störung kann komplex sein wie das Leben selbst. Oft belegt sie, dass Adorno Recht hatte: Es gibt kein richtiges Leben im falschen.
  • Die Gewohnheit des Aufschiebens ist schwer zu ändern.

Zur ebenfalls komplexen Phänomenologie soll ein Prokrastinations-Experte zu Wort kommen, Marcel Proust, dessen Ich-Erzähler in „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ mit seinem Projekt, einen Roman zu schreiben, nicht vorankommt:

„Wäre ich weniger entschlossen gewesen, mich endgültig an die Arbeit zu begeben, hätte ich vielleicht einen Vorstoß gemacht, gleich damit anzufangen. Da aber mein Entschluss in aller Form gefasst war und noch vor Ablauf von vierundzwanzig Stunden in dem leeren Rahmen des morgigen Tages meine guten Vorsätze leichthin sich verwirklichen würden, war es besser, nicht einen Abend, an dem ich weniger gut aufgelegt war, für den Beginn zu wählen, dem die folgenden Tage, ach! sich jedoch leider ebenfalls nicht günstiger zeigen sollten. Aber ich riet mir selbst zur Vernunft. Von dem, der Jahre gewartet hatte, wäre es kindisch gewesen, wenn er nicht noch einen Aufschub von drei Tagen ertrüge. In der Gewissheit, dass ich am übernächsten Tag bereits ein paar Seiten geschrieben haben würde, sagte ich meinen Eltern nichts von meinem Entschluss; ich wollte mich lieber noch ein paar Stunden gedulden und dann meiner getrösteten und überzeugten Großmutter das im Fluss befindliche Werk vorweisen. Unglücklicherweise war der folgende Tag auch nicht der den Dingen zugewendete, aufnahmebereite, auf den ich fieberhaft harrte. Als er zu Ende gegangen war, hatten meine Trägheit und mein mühevoller Kampf gegen gewisse innere Widerstände nur vierundzwanzig Stunden länger gedauert. Und als dann nach mehreren Tagen meine Pläne nicht weiter gediehen waren, hatte ich nicht mehr die gleiche Hoffnung auf baldige Erfüllung, aber daraufhin auch weniger das Herz, dieser Erfüllung alles andere hintanzustellen: Ich fing wieder an, nachts lange aufzubleiben, da ich nicht mehr, um mich des Abends zu frühem Schlafengehen zu zwingen, die feste Voraussicht des am folgenden Morgen begonnenen Werkes in mir fand. Ich brauchte, bevor mein Schwung wiederkehrte, mehrere Tage der Entspannung, und das einzige Mal, als meine Großmutter in sanftem, traurig enttäuschtem Ton einen leisen Vorwurf in die Worte kleidete: „Nun? Und diese Arbeit, an die du gehen wolltest – ist davon gar keine Rede mehr?“ war ich böse auf sie, überzeugt, dass sie, in Unwissenheit darüber, dass mein Entschluss unwiderruflich gefasst war, seine Ausführung noch einmal und diesmal auf lange Zeit vertagt habe infolge der enervierenden Wirkung, die ihre Verkennung auf mich ausübte und in deren Zeichen ich mein Werk nicht beginnen wollte. Sie spürte, dass sie mit ihrer Skepsis unbewusst einen Entschluss empfindlich getroffen hatte. Sie entschuldigte sich und küsste mich mit den Worten: „Verzeih mir, ich sage bestimmt nichts mehr.“ Damit ich den Mut nicht verlöre, versicherte sie mir, sobald ich mich richtig wohl fühle, werde sich die Arbeitslust ganz von allein einstellen.“ (Proust 1970)

Proust schildert einige wesentliche Bestandteile des hartnäckigen Aufschiebens:

  • träumerische Selbstüberschätzung statt eines Beginns im Hier und Jetzt,
  • Beschönigungen statt bewusster Wahrnehmung der Probleme, Kampf gegen innere Widerstände, statt sich ihnen zu stellen – wir erfahren nichts darüber, was der Erzähler fürchtet,
  • das Abgleiten in Selbstaufgabe, Resignation und Schlendrian,
  • das Gefühl der Demütigung bei der Konfrontation mit dem eigenen Verhalten,
  • Trotz und Wut als Reaktion auf das Gefühl der Demütigung, womit dann weiteres Aufschieben begründet wird.

Gerade Neujahr gilt als Klassiker, wenn es um gute Vorsätze geht! Vorhaben sollen energisch angepackt und zügig abgeschlossen werden. Schluss mit dem Schlendrian! Wissenschaftler haben sich gelobt, bei ihrem nächsten Aufsatz, den sie einer Zeitschrift einreichen, oder beim kommenden Kongressbeitrag kontinuierlicher zu arbeiten und die Deadline einzuhalten. Führungskräfte haben beschlossen, die lange aufgeschobenen Mitarbeitergespräche endlich in Angriff zu nehmen. Und die Sekretärin will die Ergänzungslieferungen der Loseblattsammlung zukünftig zügig einsortieren. Doch hat man sich das nicht jedes Jahr vorgenommen? Und nach ein paar Monaten festgestellt, dass alles beim Alten geblieben ist?

Putzen wird gerne zum Hinausschieben benutzt – es muss ja nicht immer gleich die ganze Fassade sein
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Die meisten Menschen schieben etwas auf: Schränke aufzuräumen, Dachböden oder Festplatten zu entrümpeln, die Gartenarbeit zu erledigen oder ihre Schuhe zu putzen. Gerne wird vertagt, was Unlust auslöst. Wenn überhaupt, dann wird es schließlich auf den letzten Drücker erledigt. Dieses alltägliche Herausschieben empfindet allerdings kaum jemand als ernsthaftes Problem. Anders sieht es aus, wenn Menschen immer wieder schwere innere Widerstände gegen die Erledigung notwendiger Pflichten oder Projekte verspüren, wenn ihnen durch ihr Aufschieben materielle oder soziale Nachteile erwachsen oder wenn chronisches Aufschieben intensives seelisches Leid erzeugt.

Ernsthaftes Aufschieben bedeutet, dass Sie unnötigerweise die Erledigung von Aufgaben und Vorhaben, die Sie selbst als wichtig, termingebunden und vorrangig einstufen, über Tage, Wochen, Monate oder Jahre verzögern. Sie fassen immer wieder Vorsätze, unternehmen Anläufe und machen Vorarbeiten, beschäftigen sich aber im entscheidenden Moment mit weniger wichtigen Dingen. Sie gehen aus dem Feld und weichen auf etwas anderes, nicht ganz so Unangenehmes aus.

Wer ernsthaft aufschiebt, wirft sich dieses Verhaltensmuster als „Willensschwäche“ vor und träumt von mehr Selbstdisziplin. Marcel Proust sah in der Willensschwäche, mit der er sich sein dauerndes Vertagen des Schreibvorhabens erklärte, gar das schlimmste aller Laster. Ausgeprägtes Aufschieben, das wie ein Zwang als unkontrollierbar erlebt werden kann, wird häufig schamhaft verschwiegen. Im eigenen Haus nicht Herr zu sein, wird als Schande erlebt.

Es gibt Personen, die nur in wenigen Bereichen Dinge vor sich herschieben, und andere, die in Beruf wie Privatleben von der Steuererklärung über den Zahnarzttermin bis hin zum pünktlichen Erscheinen bei Sitzungen nahezu alles aufschieben. In der Psychologie ist das als „Trait“ oder „State Procrastination“ bekannt geworden. Trait Procrastination korreliert sehr hoch mit der Persönlichkeitsdimension „Gewissenhaftigkeit“, einem der so genannten Big Five unter den Persönlichkeitsfaktoren. State Procrastination ist hingegen verknüpft mit chronischen Motivationskonflikten.

Wer aufschiebt, liegt selten faul auf der Bärenhaut, sondern ähnelt häufig eher einem Workaholic, der immer dann von einer Tätigkeit zur anderen wechselt, wenn die Anspannung einen kritischen Wert erreicht und die Selbstwahrnehmung zu schmerzhaft wird. Dieser oft abrupte Wechsel entspricht einem kleinen Zusammenbruch der gerichteten Motivation. Er kann auch durch eine unzulängliche Kontrolle ablenkender Impulse und durch zu geringe Konzentration auf den Arbeitsprozess erzeugt werden.

Wer aufschiebt, neigt dazu, Arbeitsergebnissen einen zu hohen Wert zuzuschreiben, hat ein schlechtes Zeitmanagement und unterschätzt die Notwendigkeit, sich in Übereinstimmung mit wichtigen eigenen Zielen und der eigenen Motivation zu befinden.

Bei Umfragen in den USA gaben 40 Prozent aller Befragten an, dass ihnen wegen ihres Aufschiebens schon einmal Nachteile entstanden sind, 25 Prozent leiden unter wiederkehrendem Aufschieben, dem sie hilflos gegenüberstehen. Procrastination ist mit ungefähr diesen Anteilen auch in Australien, England, Peru, Spanien und Venezuela gemessen worden. Weltweit gibt es hinsichtlich des Aufschiebens zwischen Frauen und Männern keine Unterschiede. Bei Studierenden schätzt man, dass 70 Prozent aufschieben, unter denen ebenfalls 25 Prozent chronisch „harte“ Aufschieber sind. Eine kürzlich an der Universität Münster durchgeführte Befragung von mehr als 900 Studierenden ergab, dass dort Männer häufiger als Frauen aufschieben, dass sie sich häufiger am Ende des Studiums befinden, aber eher gerade keine Prüfungen haben und dass die Personen eher ein unstrukturiertes Studienfach gewählt haben.

Je länger das Aufschieben andauert, desto größer wird das
Sorgen-„Paket“
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Generell gibt es zwei Gruppen, die chronisch aufschieben: Die eine schiebt auf, um negative Gefühle zu vermeiden. Die andere, um Erregung zu spüren (Avoidance-Arousal Procrastination). Allerdings muss man nicht stabil zur einen oder anderen Gruppe gehören. Wer aufschiebt, kommt häufig auch zu spät, ist unvorbereitet, schlecht organisiert und hat schlechte Beziehungen zu Arbeitskollegen. Viele verbringen zu viel Zeit mit Projekten, die ohnehin scheitern. Sie vermeiden es, sich Rechenschaft über ihren Arbeitsstil zu geben und versuchen stattdessen, ihr Image zu pflegen. Studierende schieben am häufigsten die Anfertigung schriftlicher Arbeiten und die Vorbereitung auf Prüfungen vor sich her. Ihr Aufschieben ruft allerdings Angst hervor und wirkt sich auf ihre Lebensqualität und auf ihre Noten negativ aus. Manche allerdings brauchen die Aufregung und den Thrill des Zeitdrucks.

Führungskräfte üben ihre Tätigkeiten in relativer Einsamkeit und mit hoher Selbstverantwortlichkeit aus. Planungs- und Selbstmanagementschwächen begünstigen bei ihnen das impulsiv-vermeidende Aufschieben: Sie setzen dann als „Macher“ viele Projekte in Gang, haben aber Schwierigkeiten mit dem langfristigen Controlling, der Umsetzung und Verwirklichung dieser Projekte.

Die tiefer gehenden Ursachen für hartnäckiges Aufschieben sind wie eine Zwiebel geschichtet. Von außen nach innen kann man Folgendes erkennen:

  • fehlende oder ungeeignete Planungs-, Organisations- und Arbeitstechniken,
  • fehlende oder ungeeignete Selbststeuerungsfähigkeiten,
  • hohe Impulsivität, hohe Unachtsamkeit für den Prozess der Aufgabenerledigung, Misserfolgserwartungen,
  • geringe Toleranz für Frustrationen und negative Emo-tionen,
  • uneindeutige Motivationslagen hinsichtlich der Aufgaben oder ihrer Erledigung,
  • spannungsgeladene innere Konflikte,
  • unrealistische Ansprüche an sich selbst,
  • irrationale Einstellungen.

Dabei hat das Aufschieben mehrere Ausprägungen: Es ist sowohl ein Vermeidungsverhalten zur Abwehr anders nicht mehr kontrollierbarer negativer Gefühle, ein Symptom für tiefer liegende Konflikte, die mit der Aufgabe oder ihrer Erledigung in Verbindung stehen, und ein (neurotischer) Versuch, die eigene Selbstachtung vor Gefährdungen zu schützen, der auf mittlere Sicht die Selbstachtung jedoch völlig ruiniert.

Aufgaben zu erledigen, bedeutet Triebverzicht, Konzentration auf das Wesentliche und Anstrengung. Wer eine geringe Toleranz gegenüber Entbehrungen und Frustrationen hat, wird anstrengende Aktivitäten schnell als zu anstrengend interpretieren. Zu anstrengend bedeutet: Es ist nicht zu schaffen, man braucht gar nicht erst anzufangen, oder man hört ab einer bestimmten Intensität von unangenehmer Spannung auf und macht etwas anderes.

Das Aufschieben kann sich als Symptom eines Konflikts ergeben. Vielleicht wollen Sie in Ihrer beruflichen Karriere groß herauskommen, haben aber Angst davor, sich in der Konkurrenz mit anderen durchzusetzen. Wenn Sie es aufschieben, sich in Ihrer Arbeit zu profilieren, lassen Sie diesen Konflikt in der Schwebe.

Eine vermeintliche Bedrohung des Selbstwertgefühls zu vermeiden, ist ein Hauptmotiv der Prokrastination. Ein Beispiel: Sie stecken viel und gut geplante Arbeit in einen schwierigen Bericht, mit dem Sie eine Aufstockung Ihres Budgets begründen. In der entscheidenden Sitzung wird die Qualität Ihres Reports kritisiert, und man stellt die von Ihnen geforderten Mittel nicht bereit. Möglicherweise werden Sie sich diese Niederlage als persönliches Versagen ankreiden. Hätten Sie den zurückgewiesenen Bericht nach langem Aufschieben schließlich unter Hochdruck in ein paar Nachtschichten zusammengeschustert, dann können Sie die Pleite darauf schieben, Ihr Image als eigentlich hochkompetent bewahren und Ihre Selbstachtung schützen.

Das Motiv, negative Selbstbewertungen zu vermeiden, findet sich beispielsweise auch beim Perfektionismus, einer Hauptquelle für das Aufschieben. Sind Sie perfektionistisch, dann wird es Sie kränken, wenn Sie nicht auf Anhieb vollkommene Sätze zu Papier bringen. Schieben Sie die Abfassung schriftlicher Unterlagen auf, so ersparen Sie sich diese kleine Demütigung.

Andere Aufschiebemotive wie Versagensangst, Angst vor Erfolg und passiv-aggressive Widersetzlichkeit haben ebenfalls letztlich den Hintergrund, eine antizipierte Beschämung abzuwenden: Viele Menschen fürchten die Erkenntnis, dass sie ihren eigenen, oft überhöhten Idealen an Leistungsfähigkeit und Qualität nicht entsprechen. Diskrepanzen zwischen Soll und Ist werden mit Beschämung und Selbstabwertung erlebt. Je stärker Leistungen, Erfolge und äußere Anerkennung mit dem Selbstwertgefühl gleichgesetzt werden, desto größer erscheinen die Risiken von Pleiten, Pech und Pannen. Sie lassen sich durch das Aufschieben kurzfristig vermeiden. Ironischerweise zerstört diese Art des Selbstschutzes mittelfristig jedoch das zu Bewahrende: Wenn Sie das, was Sie sich stets aufs Neue vornehmen, nie durchziehen, haben Sie keine Erfolge, untergraben Ihre Glaubwürdigkeit und ruinieren so auf Raten Ihr Selbstwertgefühl.

Es gibt drei Lösungen:

  • Sie tun das, von dem Sie sagen, dass Sie es wollen oder von dem Sie akzeptieren, dass Sie es müssen, wenn Sie bestimmte Effekte erzielen wollen,
  • Sie geben Ihre Vorhaben auf und tyrannisieren sich nicht länger mit der Vorstellung, dass Sie jene Dinge machen müssten, die Sie all die Jahre nicht gemacht haben. Sie wechseln den Job und suchen sich etwas, das Ihnen weniger Stress bereitet,
  • Sie entscheiden sich dafür, weiter aufzuschieben, lernen aber, Leid und Selbstverachtung einzugrenzen und eventuell sogar Spaß am Aufschieben und am Spiel mit dem Feuer zu empfinden. Sie entwickeln die Bereitschaft, etwaige negative Folgen Ihres Aufschiebens in Kauf zu nehmen.

Der Motor des Aufschiebens lässt sich mit Hilfe des BAR-Programms abstellen:

Bewusstheit: Wissen über die wichtigsten Konflikte hinter dem Aufschieben, über Einstellungen, die es begünstigen und solche, die ihm entgegenwirken.

Aktionen: Handlungen wie die, sich überprüfbare Ziele zu setzen, vernünftige Schritte zu planen und zu vollziehen, angemessenes Zeitmanagement zu betreiben, Selbststeuerungstechniken anzuwenden und sich selbst zu belohnen.

Rechenschaft: Monitoring der erreichten Veränderungen durch das Führen eines Veränderungslogbuchs.

Der erste Schritt besteht in Selbsterkenntnis: Haben Ihre Konflikte mit einer uneindeutigen Motivation zu tun, mit überhöhten Ansprüchen an sich selbst oder mit Ängsten? Überprüfen Sie Ihre Befürchtungen auf deren realistischen Gehalt. Selbsterkenntnis können Sie umsetzen in mehr Selbstakzeptanz: Verlangen Sie nichts Unmögliches von sich, sondern lernen Sie, sich realistische Ziele zu setzen. Verbessern Sie Ihre Selbstmanagementfertigkeiten, erlernen Sie Planungs- und Selbstorganisationstechniken und wenden Sie diese auch konsequent an. Dabei nützt Ihnen ein Veränderungslogbuch, in dem Sie Ihre Fortschritte, aber eben auch Fehlschläge bilanzieren und auswerten.

  • Machen Sie eine Liste von all den Dingen, die Sie zu erledigen haben. Vergessen Sie dabei Ihre Vergnügungen und Ihre Freizeit nicht!
  • Streichen Sie alles von der Liste, was Sie ohnehin nie ernsthaft machen wollten.
  • Legen Sie Ihre eigenen Ziele, Werte und Prioritäten fest. Setzen Sie sich realistische Ziele. Schreiben Sie alles auf!
  • Identifizieren Sie Ihre zugrunde liegenden Konflikte wie zum Beispiel Angst, Ärger, Perfektionismus sowie Ihre irrationalen Einstellungen wie die, dass Ihre Aufgaben zu hart seien oder dass ein Scheitern eine Katastrophe wäre.
  • Bekämpfen Sie Ihre irrationalen Einstellungen, denken Sie vernünftiger und legen Sie sich realitätsgerechte Auffassungen zu.
  • Prüfen Sie, ob Sie trotz Ihrer gegenwärtigen Konflikte und Einstellungen eine Chance haben, Ihre Vorhaben erfolgreich zu bewältigen.
  • Prüfen Sie, ob Ihre aufgeschobenen Vorhaben genügend mit Ihren Zielen und Werten übereinstimmen. Wenn nicht: Konzentrieren Sie sich nur auf die Ziele, die für Sie bedeutungsvoll sind und geben Sie die anderen auf.
  • Planen Sie, wie Sie Ihre Ziele in kleinen Schritten und Etappen erreichen können.
  • Schätzen Sie den Zeitaufwand, bis Sie Ihr Projekt erledigt haben werden, und verdoppeln Sie die Zeit dann.
  • Legen Sie Belohnungen für Erfolg fest und belohnen Sie sich für jeden Schritt.
  • Beobachten Sie sich genau und halten Sie Ihre Aufzeichnungen in einem Veränderungslogbuch fest.
    Wenn Sie trotz Leidens unter dem Aufschieben keinen dieser Vorschläge umsetzen oder aber feststellen, dass Sie dadurch Ihr Problem nicht genügend bewältigen können, brauchen Sie professionelle Hilfe.

Literatur

Marcel Proust (1970),
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Werkausgabe, Frankfurt am Main, Band 3, Im Schatten junger Mädchenblüte, S. 202-203

Hans-Werner Rückert (2004), Schluss mit dem ewigen Aufschieben. 5. Auflage, Frankfurt/New York, Campus-Verlag

Hans-Werner Rückert (2004), Das Syndrom des Aufschiebens in Marcel Proust „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. In: E. Jaeggi, H. Kronberg-Gödde, Zwischen den Zeilen. Literarische Werke psychologisch betrachtet. Gießen, Psychosozial-Verlag, S. 121-132

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