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Foto: FU Berlin, Willy-Scharnow-Institut, Historisches Archiv zum Tourismus

Time out

Freizeit und Freizeitforschung aus historischer Sicht


von Hasso Spode

„Was ist die ‚Zeit‘? Wenn mich niemand fragt, weiß ich es“, sagt der Kirchenvater Augustinus, „will ich es einem Fragenden erklären, weiß ich es nicht.“ Mit der „Freizeit“ verhält es sich ähnlich: Wir haben ein intuitives Wissen darüber, doch eine präzise und erschöpfende Bestimmung ist die Forschung schuldig geblieben. Gewöhnlich wird Freizeit als Gegenbegriff zur kapitalistisch-industriellen Arbeit gedacht. Hier „regeneriere“ sich der Mensch, mache sich fit für die Arbeit. Demnach hätten Arbeitslose nicht zu viel, sondern überhaupt keine Freizeit, ebenso einst der Adel des Ancien Régime, der sein Leben bevorzugt mit Gastereien und Kostümfesten verbrachte. Andere sehen den Gegensatz von Arbeit und Freizeit in Auflösung begriffen: In der „Erlebnisgesellschaft“ werde alles zum „Event“, der Tourismus werde alltäglich und der Alltag touristifiziert.

Unvergessen Helmut Kohls Wort von der Bundesrepublik als „Freizeitpark“. Wieder andere konstatieren bereits wieder das Ende der „Spaßgesellschaft“: Die Globalisierung mache die Freizeit wieder zu einer Restgröße, der Ernst des Lebens werde wieder in sein Recht gesetzt. Solche Diagnosen können durchweg Evidenz beanspruchen, bleiben aber der jeweiligen Gegenwart verhaftet. Da ist es sinnvoll, dem Wandel der „freien“ Zeit und deren Deutungen nachzugehen und damit zugleich wohlmöglich Konstanten sichtbar zu machen. Der Begriff „Freizeit“ bürgerte sich im Kaiserreich ein. Grimms Wörterbuch kannte ihn 1878 noch nicht; indes sprach Karl Marx schon zwei Jahrzehnte zuvor von der „freien Zeit“ als der Zeit für die „Entwicklung des Individuums“, das dadurch „in ein andres Subjekt verwandelt“ werde. Die temporäre Verwandlung des Menschen hat durchaus eine anthropologische Dimension. Die befreite und befreiende Wandlung fügt sich nahtlos in die lange, wohlmöglich allen Kulturen eigene Tradition der „Auszeit“, in die Tradition der Abtrennung des Besonderen vom Gewöhnlichen, der Muße von der Arbeit, des Spiels vom Ernst, des Rausches von der Nüchternheit, des Heiligen vom Profanen. Die Ethnologie hat zahllose solcher „Time-out-Phänomene“ beschrieben. Der Mensch kann offenbar in einer homogenen Welt nicht existieren. Die separierten Zeit-Räume betritt er durch bald unmerkliche, bald hoch dramatische „Rituale des Übergangs“, um sich in einer Welt wiederzufinden, in der die alltäglichen Regeln durch außeralltägliche ersetzt sind.

Im Gegensatz zum Mittelalter ist Schach heute eine friedliche Angelegenheit
Foto: pixelqualle

Beide Regelwerke können geradezu antagonistisch sein und hängen doch auf geheimnisvolle Weise zusammen, sind Teil einer übergreifenden Struktur. So stellte der frühneuzeitliche „Karneval“ die Hierarchie auf den Kopf: Der Bettler wurde zum Bischof geweiht, der Hure eine Krone aufgesetzt. Die groben Scherze und gewalttätigen Ausschreitungen folgten dabei einer eigenen, strengen Logik und fungierten als „Sicherheitsventil“ der Ständegesellschaft. Eine zentrale Rolle in der vormodernen Welt spielten die fantastischen Trinkexzesse, wie das in den Kirchen ausgeschenkte „Pfingstbier“, bei denen bis zur Bewusstlosigkeit zugeprostet werden musste. Sie stärkten sowohl den sozialen Zusammenhalt als auch die Erkenntnisfähigkeit, da der Rausch die Pforte zur übersinnlichen Realität aufstieß. Komplexe Gesellschaften, wie die der Frühen Neuzeit, kannten natürlich weitere Auszeiten – kleine und große, individuelle und kollektive. Eine vollständige Liste erstellen zu wollen, wäre ein Unding. Sie enthielte so Verschiedenes wie die Jagd, die Pilgerfahrt, den Besuch von Tavernen, Freudenhäusern, Gaukler- und Theatervorstellungen sowie zahlreiche Spiele, vom Ritterturnier bis zu friedlicheren Beschäftigungen wie Taroque und Schach – das freilich anfangs mit solcher Leidenschaft betrieben wurde, dass die Kontrahenten plötzlich in die „richtige“ Welt wechselten und den Dolch zogen.

Fast immer sind solche Auszeiten funktional mehrdeutig und moralisch umstritten. Mit dem Aufstieg des Bürgertums – das zunächst die moralische Hegemonie errang, dann die ökonomische und schließlich die politische – verschärfte sich diese Ambivalenz. Einerseits wurde das „Erleben“ zunehmend als profitable Einnahmequelle vermarktet und erschaffen. Die Palette reichte vom Wanderzirkus bis zum Vergnügungspark für betuchtere Kunden. Der erste dieser „Tivolis“ mit Fahrgeschäften, Schießständen, Konzert und Feuer­werk eröffnete 1795 bei Paris. Gleichnamige Attrak­tionen entstanden 1829 in Berlin – Hegel fuhr hier auf der Kreisfahrbahn – und 1843 in Kopenhagen. Unschwer ließe sich von den Tivolis über die technisierten „Pleasure Beachs“ um 1900 eine Linie bis Disneyland ziehen. Eine andere Linie führte von den in England enorm populären Sportveranstaltungen zu den heutigen „Mega-Events“: Pferderennen, Ruderregatten, Cricket-Turniere oder Boxkämpfe – wie der zwischen Tom Cribb und dem schwarzen Amerikaner Tom ­Molyneux 1813 – konnten bis zu 100.000 Zuschauer anziehen.

Baden ist nach wie vor eine beliebte Freizeitbeschäftigung – wie etwa im Tropical Island
Foto: Tropical Island

Andererseits aber galt nun die Devise: „Time is Money“. Getreu dem ironischen Wort Max Webers über die bürgerlich-protestantische Ethik waren Vergnügen und Luxus reine „Zeitverschwendung“ und allein schon deshalb „sittlich absolut verwerflich.“

Der bürgerliche Vorwurf der Verschwendung richtete sich zunächst nach „oben“ gegen den Adel, der im Luxus schwelgte, ohne zu arbeiten. Die Furcht vor der Langeweile hatte die friedlich gewordene Kriegerkaste immer aufwendigere „Zerstreuungen“, immer groteskere „Verfeinerungen“ ersinnen lassen – eine Konsum- und Spaßkultur, deren frivoler Tanz auf dem Vulkan in der Französischen Revolution grausam abgestraft wurde. Die Bürger wandten sich alsdann nach „unten“ gegen das entstehende Proletariat. Gegen die Faulheit und „Leckerhaftigkeit“ der Unterschichten führten sie einen beharrlichen Kampf. Auf lange Sicht mit Erfolg. Dieser verdankte dem Zusammenspiel unzähliger Mechanismen der Repression und der Belohnung im Prozess der Zivilisation. Zunächst überwog die Repression. Zwangsanstalten, wie die Fabrik, die Kaserne und das Gefängnis, erlaubten den zugleich ausbeutenden und erziehenden Zugriff. Doch draußen bedurfte es neben der strafenden Obrigkeit der wohlwollenden Volkserzieher, zumal der Priester und Ärzte, um den „gefährlichen Klassen“ einen friedlichen, vernünftigen Lebenswandel aufzuprägen, ihnen andere Freuden schmackhaft zu machen als das Trinkgelage nebst Rauferei am Sonntag. Denn dies war die Kehrseite des gefeierten Siegeszugs des Kapitalismus: Der Lohn, so karg er auch bemessen war, er ließ sich ausgeben für Unnützes und Schlechtes, für Schnaps und Tanz-Casinos, Prostituierte und blutige Wettkämpfe. Die „freie“ Zeit versammelte „alle Wildheit, alle Unmoral und Unvernunft der Unterklassen“ in sich.

Jede Lohnerhöhung, jede Arbeitzeitverkürzung war nicht nur als Schmälerung des Profits gefürchtet, sondern auch als Vermehrung der Unmoral. Zumal in England bemühten sich kirchliche und philantropische Kreise um die Rational Recreation der Massen. So lockte der Temperenzkämpfer Thomas Cook seit 1841 Arbeiterfamilien mit Sondertarifen ins Grüne und empfahl die Eisenbahn als bestes Mittel der Sozialpolitik: „We must have railways for the millions!“ Tatsächlich strömten sie später sonntags an die Strände und Piers von Brighton oder Blackpool. Allein Blackpool zählte 1883 eine Million Ausflügler. „Vernünftig“ ging es dort weniger zu: Trinken, Fressen, Tanzen, Spielen, Wetten und Achterbahnfahrten.

In einigen Seebädern wurde das wilde Treiben mehr oder weniger geduldet, andernorts schritt man mit viktorianischer Strenge gegen die lasterhaften Pubs, Fairgrounds und Music Halls ein. Auch in Deutschland kämpften Obrigkeit, Vereine und Kirchen gegen die Vergnügungs- und Trunksucht des Pöbels an. So hatten sich Hunderttausende einem „Kreuzzug wider den Branntwein“ angeschlossen, der freilich 1848 kläglich zusammenbrach.

Bald war diese erste moderne Massenbewegung Deutschlands vergessen. Erst im Kaiserreich wurde das Freizeitverhalten erneut thematisiert. 1892 rief der Sozialreformer Viktor Böhmert eine „Freizeitkonferenz“ ein: Sozialer Friede und wirtschaftlicher Fortschritt hingen davon ab, ob die Arbeiterschaft künftig statt der „alkoholistischen Geselligkeit“ der Kneipen die „frische Natur“ und die „Häuslichkeit“ wähle. Eine neue Anti-Alkoholbewegung entstand. Was Böhmert und seine Mitstreiter nicht sahen: Die eingeforderte „Veredelung des Arbeiters“ hatte bereits eingesetzt – und daran war entscheidend die Arbeiterbewegung selbst beteiligt. Doch der Freizeitdiskurs blieb eng verwoben mit den politisch-moralischen Debatten im Umkreis der „sozialen Frage“ und der „Alkoholfrage“, die zunächst ganz auf die Unterschichten gemünzt war. Sporadisch aber rückte auch außerhalb dieses Zusammenhangs die Freizeit in den Horizont der Gesellschaftsanalyse: erste Anzeichen einer Erosion der „protestantischen Ethik“.

So konstatierte Theodor Fontane, dass im Bürgertum statt der Arbeit der Urlaub in den Mittelpunkt des Lebens trete: viele betrachteten „elf Monate des Jahres nur als Vorbereitung auf den zwölften, nur als die Leiter, die auf die Höhe des Daseins führt.“ Thorstein Veblen, amerikanischer Ökonom und Soziologe, stellte 1899 seine brillante „Theorie der Freizeit-Klasse“ auf: Unproduktive „Muße“ und „demonstrativer Konsum“ fungierten als Gradmesser des Sozialprestiges, dessen Mehrung das letztendliche Ziel allen Handelns sei. In der Bourgeoisie, die den anderen Klassen Arbeit und Askese predigte, obliege das Konsumieren den Ehefrauen, die damit für ihre Männer „stellvertretend“ leben würden. Der Soziologe und Volkswirt Werner Sombart sah im (weiblichen) Streben nach Luxus und Müßiggang die eigentliche Triebfeder des Kapitalismus. Und der französische Dichter Jules Laforgue propagierte gar das „Recht auf Faulheit“ – ein Seitenhieb auf seinen Schwiegervater Karl Marx, den überragenden Theoretiker der Arbeit. Ganz ernst waren solche Analysen aber noch nicht gemeint.

Anders die Ansätze, die nach dem Ersten Weltkrieg die Freizeit empirisch unter die Lupe nahmen. Hierbei standen wiederum die „Massen“ im Blickpunkt, das traditionelle Objekt sozialer Disziplinierung. So wurden – vor allem in der jungen Sowjetunion – aufwendige Untersuchungen zum Zeitbudget von Arbeitern durchgeführt. Auch die Nutzung neuer Medien wurde empirisch vermessen, allen voran das Kino. In vielen Ländern hatte sich die „freie“ Zeit vermehrt, war der Arbeitstag auf acht bis zehn Stunden begrenzt worden. Die prognostizierte Zunahme von Trunkenheit und Gewalt blieb aus. Im Gegenteil, die Freizeit wurde nüchterner, friedlicher – und weiblicher. Frauen eroberten die „Lichtspieltheater“ und Caféhäuser; Sekretärinnen begannen, auf eigene Faust zu verreisen. Die Kneipe büßte ihre Vorrangstellung als Freizeitraum ein. Doch statt den Rückgang des Alkoholkonsums und den Boom der Sport- und Wandervereine zu feiern, wuchs nun die Sorge, dass zumal „die Jugend“ ihre Freizeit nicht „sinnvoll gestaltete“, sondern für Kino, Kirmes und Schundliteratur vergeude. Zugleich begann die Erforschung des „Fremdenverkehrs“. 1929 wurde in Berlin zu diesem Zweck ein Institut gegründet, dem weitere folgten. Sie hatten es schwer, ihre Disziplin im Kanon der Wissenschaften zu etablieren. Mehr Beachtung fand 1938 der kulturphilosophische Ansatz des Historikers Johan Huizinga: Dem nüchtern-strebsamen Homo faber stellte er den selbstvergessenen Homo ludens entgegen, um das von äußeren Zwecken freie Tun als eine „Grund­lage“ der Kultur in sein Recht zu setzen.

Indes waren es die totalitären Regime in Italien und Deutschland, die „Freizeit“ und „Urlaub“ zu einem respektablen Gegenstand der Politik und Forschung aufwerteten. Ihr Kunststück, „bürgerliche Privilegien“ durch in Serie produzierte Konsumgüter zu „brechen“, ohne die Besitzverhältnisse anzutasten, avancierte zu einem ideologischen Exportschlager. Zu diesem Zweck schickte das NS-Regime „deutsche Arbeitsmenschen“ auf „Kraft durch Freude“-Schiffen nach Madeira und setzte vorbildliche Urlaubsregelungen durch. Berlin und Rom veranstalteten Freizeitkongresse mit tausenden Delegierten aus aller Herren Länder, und 1936 wurde – als faschistisches Gegenstück zum Internationalen Arbeitsamt – ein Internationales Zentralbüro „Freude und Arbeit“ installiert. Die Freizeitpolitik sollte „Klassenschranken“ abbauen und die „Völker verbinden“.

1945 lag Europa in Trümmern. Doch die Sehnsucht nach dem „guten Leben“ war unzerstört. In der Zwischenkriegszeit war sie geweckt worden, vor allem in der „Volksgemeinschaft“ des Dritten Reichs: „Kulturgüter“, wie Theater und Konzert, Grammophon und Radio, die Urlaubsreise und selbst das eigene Auto waren in greifbare Nähe gerückt. Umgesetzt wurde davon wenig. Aber der „Wille zum Verbrauch“ war erwacht, den Ludwig Erhard dann 1957 zu Recht als Voraussetzung seiner konsumistischen Marktwirtschaft pries, die „über eine breit geschichtete Massenkaufkraft die alte, konservative soziale Struktur zu überwinden versprach“.

Als zur selben Zeit Intellektuelle das Thema „Freizeit“ für sich entdeckten, reagierten sie seismographisch auf den kommenden Durchbruch des Massenkonsums. Doch sie bezweifelten, dass eine Angleichung der Konsumchancen die „konservative soziale Struktur“ überwinden könne – Erhard titulierte sie denn auch als „Uhus und Pinscher“. Namen wie Adorno, Habermas, Lefebvre, Dumazedier und de Grazia stehen für jene Gründungsphase der „Freizeitsoziologie“ der 50er und 60er Jahre. Diese Wissenschaft kam mit erhobenem Zeigefinger daher. Freizeit war nicht etwa mit Spaß und Genuss assoziiert (erst recht nicht mit der NS-belasteten „Freude“), sondern gab Anlass zur größten Besorgnis – Freizeit war ein „Problem“. Ein moralinsaurer Alarmismus stand der Freizeitsoziologie Pate und sollte ihr lange treu bleiben. 1968 witterte der „Brockhaus“ beim Stichwort „Freizeit“ vor allem „Gefahren“: „Die aus Rücksichts-, Hemmungs- und Maßlosigkeit sowie Unerzogenheit resultierenden Freizeit-Schäden nehmen ständig zu.“

Computer haben nicht nur die Arbeit verändert, sondern auch die Freizeit
Foto: pixelquelle

Einig zwar in der Klage über den Niedergang der Werte, sah man dessen Ursache allerdings mal von „links“ im „Spätkapitalismus“, mal von „rechts“ in der „Vermassung“ – wobei sich beide Seiten im Antiamerikanismus treffen konnten. Wie die politischen Vorstellungen, so waren auch die von der Funktion der Freizeit konträr. War sie den einen die im Marx’schen Sinne „freie“ Zeit der Selbstverwirklichung, so sprachen die anderen vom „langen Arm des Berufs“, von der Prägung des Freizeitverhaltens durch die Arbeitswelt. Wieder andere meinten, die vermeintlich „freie“ Zeit sei durch die „Kulturindustrie“ geprägt, die die Menschen „manipuliere“, das heißt verdumme und entmündige. Schließlich teilte man die Zeiten der Nicht-Arbeit in solche, die für die „Reproduktion der Arbeitskraft“, zum Beispiel für die „Grundbedürfnisse“ Essen und Trinken, notwendig seien, und solche, die der „Gestaltung“ verblieben, wie Hobbys oder Lesen. Dieses Feld wurde besonders kontrovers diskutiert, geht es doch dabei um die „richtige“ Verwendung von Zeit.

Aus heutiger Sicht sind viele dieser Thesen überholt. Dennoch hat die frühe Freizeitsoziologie bleibende Verdienste. Sie hat den Blick gelenkt auf die konstitutive Rolle des Konsums, der Medien, des Urlaubs, kurz: der „Massenkultur“. Dabei blieb sie ganz der arbeitsgesellschaftlichen Perspektive verbunden: Da Arbeit erst mit dem Kapitalismus zu der nach Zeiteinheiten bemessenen, „entfremdeten“ Lohnarbeit geworden sei, entstehe die Freizeit quasi als Nebenprodukt der Industriegesellschaft. Bis heute ist es kaum gelungen, diese Perspektive grundlegend zu überwinden, bis heute werden Freizeit und Tourismus unbeschadet ihrer überragenden soziokulturellen und wirtschaftlichen Bedeutung in der Forschung und Forschungsförderung als Restkategorie gehandelt.

Auf die einleitende Frage, was Freizeit ist und seit wann sie existiert, ergibt sich eine dreifache Antwort. Kulturanthropologisch gesprochen, hat sie der Mensch schon immer besessen: als ein Riss in der Ordnung von Zeit und Raum, als Fest, als Spiel, als heilige oder profane, große oder kleine Auszeit. Wissenssoziologisch gesprochen, kam die Freizeit als erstes nicht zum Adel – obschon dieser unendlich viel Zeit hatte –, sondern zu den Unterschichten: Im 19. Jahrhundert fiel der besorgte Blick der Herrschenden auf die Nicht-Arbeit der Beherrschten. Ein neuer Zeit-Raum wurde benannt und der bürgerlichen Deutungsmacht unterstellt. Chronologisch gesprochen entwickelte sich die Freizeit, ohne auf den antiken Sonderweg einzugehen, im langen Übergangsprozess vom Mittelalter zur Moderne: Spiel und Fest wurden Schritt um Schritt säkularisiert, pazifiziert, technisiert, kommerzialisiert, bürokratisiert. Im Wechselspiel zwischen Distinktion und Assimilation wurden dabei fortwährend neue Praktiken und Güter erschaffen, umgearbeitet, umbenannt, verfemt, verfremdet, verbreitet, zu Menschenrechten erhoben oder auch einfach beiseite gelegt. Bei jeder Innovation wurde um die Grenze zwischen dem Legitimen und dem Illegitimen verbissen gerungen, bis schließlich die Volkserzieher das Spiel entnervt aufzugeben scheinen und der „Erlebnisgesellschaft“ ihren Lauf lassen.

Die bürgerliche Hochkultur, Leitstern der frühen Freizeitsoziologie, hat ihre Königsstellung jedenfalls unwiederbringlich verloren. Verweht ist auch längst ihr spartanischer Antipode, die auf ihre Art bürgerliche Arbeiterkultur. Denn die von Erhard beschworene Steigerung der „Massenkaufkraft“ hatte den „Möglichkeitsraum“ schlagartig ausgedehnt: Einst unerreichbare „Kulturgüter“ sind seither demokratisiert worden.

Literatur

Hasso Spode ist zusammen mit Irene Ziehe
Herausgeber des Buchs „Gebuchte Gefühle“,
ein Sonderband des Jahrbuchs „Voyage“.
Es erscheint im Profil Verlag München.

ISBN 3-89019-556-3.

Die arbeitsfreie Zeit nahm enorm zu. Zumal Urlaub, Fernsehen, Auto und Heimcomputer haben unser Leben tiefgreifend verändert. Zugleich hat sich dabei die Machtbalance verschoben: Nicht der Staat und die Volkserzieher, sondern die Konsumenten wählen aus, entscheiden über Erfolg oder Misserfolg eines Konsumguts, und dabei ist es ganz gleich, über welchen Geschmack oder Intelligenzquotienten sie verfügen, sie müssen die Ware nur bezahlen können. Was der Kulturkritik ein Graus und den Marktwirtschaftlern ein Ideal, scheint somit eingetreten: zumindest in der Freizeit kann jeder nach seiner Façon selig werden.

Doch ist dies nur die halbe Wahrheit. Erstens: Die heutige Freizeitsoziologie sitzt einem Irrtum auf, wenn sie die unübersichtlich-egalitäre „Pluralisierung der Lebensstile“ allzu wörtlich nimmt. Vielmehr haben wir uns einer neuen Hegemonialkultur verschrieben. Ihre Träger sind weltweit die Mittelschichten, zumal in Gestalt von Experten, die den Götzen „Gesundheit“ und „Sicherheit“ huldigen und so die Askese mit scheinbar unabweislichen Sachzwängen begründen. Der Streit um das „rechte Leben“ geht also unvermindert weiter. Daher sind – zweitens – auch die Marktideologen im Irrtum, die meinen, über den „Geschmack“ könne und solle nur der Markt entscheiden. Geld ist nicht die einzige Kapitalart. Geld allein bildet keine Kultur. Die Freizeit war, ist und bleibt ein Kampfplatz der Moral und eine Arena der sozialen Distinktion. Über allen Kämpfen und deren soziologischer Analyse aber sollten wir Johan Huizinga nicht vergessen: Was den Menschen ausmacht, das ist das Spiel.

Literatur

Huck, G. (Hg.):
Sozialgeschichte der Freizeit, Wuppertal 1980.

Maase, K.: Grenzenloses Vergnügen. 1850-1970,
Frankfurt a.M. 1997.

Schulze, G.:
Die Erlebnisgesellschaft, Frankfurt a.M. 1993.

Spode, H.: Die Macht der Trunkenheit, Opladen 1993.

Spode, H.: Wie die Deutschen „Reiseweltmeister“ wurden,
Erfurt 2003.

Voyage. Jahrbuch für Reise- & Tourismusforschung 1-7
(1997-2005).

Walvin, J.: Leisure and Society, 1830-1950, London 1978.

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Arbeit am Zusammenhalt
Feste der Arbeiterbewegung zwischen Ästhetisierung und Politisierung

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Freizeit und Freizeitforschung aus historischer Sicht

Der spielende Arbeitsmensch
Arbeit im Gespräch: Vom Austausch zwischen Sport, Spiel und Arbeit