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Abb.: KHI

Kontrollverdichtung im Mittelalter

Bettelmönche als Sittenwächter, Gewissenspolizei und Rechtsgelehrte

Von Thomas Ertl

Der Übergang vom zwölften zum dreizehnten Jahrhundert war von großen gesellschaftlichen Umwälzungen gekennzeichnet: Die Verstädterung setzte ein und löste das ehemals dörfliche Leben und die Regentschaft der Burgen ab. Der individuelle Handlungsspielraum einzelner Personen wurde vergrößert und Universitäten fingen an, das Wissen zu sammeln. Welche Rolle die Bettelorden in Zeiten des gesellschaftlichen Umbruchs und dem Streben nach Sicherheit der Menschen spielten, erzählt Thomas Ertl in seinem Beitrag.

Das dreizehnte Jahrhundert war eine Zeit des Sammelns, Ordnens und Kategorisierens. Nachdem sich die Wissenschaften im zwölften Jahrhundert professionalisiert und an der Wende zum dreizehnten in Form der Universitäten institutionalisiert hatten, schrieben Theologen, Philosophen, Juristen und Naturenzyklopädisten große Kompendien, in denen sie das angehäufte Wissen ihrer Fachgebiete interpretierend zusammenstellten.

Alexander von Hales, Albertus Magnus und Thomas von Aquin verfassten die bedeutendsten Summen der Theologie, von Accursius und Hostiensis stammen umfangreiche Kommentare zum römisch-weltlichen und kanonisch-geistlichen Recht, Bartholomäus Anglicus, Thomas von Cantimpré und Vinzenz von Beauvais dokumentierten den Kenntnisstand über die Naturerscheinungen. Neben den Größten ihres Fachs arbeitete eine große Anzahl weniger bekannter Gelehrter an ähnlichen Projekten. Ordnen wollte man jedoch nicht nur das rapide anwachsende Fachwissen, sondern auch eine Gesellschaft, die aus den Fugen zu geraten schien – weshalb nicht untypisch in diese Zeit auch die Gründung großer Orden wie der Franziskaner und Dominikaner fiel.

Das im dreizehnten Jahrhundert dem Ende entgegen gehende Hochmittelalter war eine Zeit des Aufbruchs in eine bisher unbekannte Vielfalt an Denk-, Wirtschafts- und Lebensformen. Die weitgehend autarken Grundherrschaften verloren ihre vorherrschende Stellung, der städtische Markt mit seiner Geldwirtschaft begann das ökonomische Leben zu dominieren. An die Stelle von Kleinräumigkeit und Stabilität traten Mobilität und Vernetzung, die Menschen schufen sich neue geistige und materielle Ziele. Viele Laien lösten sich aus persönlichen Abhängigkeitsverhältnissen, ließen sich in den expandierenden Städten nieder und bestimmten eigenständiger als zuvor über ihren Beruf und die Wahl ihres Ehepartners.


Albertus Magnus (re.) war einer der Verfasser der bedeutendsten Summen der Theologie – der andere war Thomas von Aquin (li.)
Abb.: KHI

Hof- und Dienstrechte, verfasst für die familia, die Gemeinschaft eines grundherrschaflichen Verbandes, reichten nicht mehr aus, die im komplexer werdenden Rechtsalltag auftauchenden Tatbestände abzudecken und die notwendigen Sicherheiten bereitzustellen. Im zwölften Jahrhundert setzte eine herrschaftliche Gesetzgebung ein, die sich vor allem im folgenden Jahrhundert entfaltete. Immer umfassender wurden die Rechtsmaterien, die in den normativen Texten ihre Regelung fanden. Es kam zu einer „gesetzespositivistischen Umwälzung“ (S.Gagnér), deren entscheidende Phase ins dreizehnte Jahrhundert fiel. Um die neuen sozialen Großgruppen in den Städten, Ländern und Kirchen zu ordnen und zu beherrschen, ihr Leben zu normieren und auf ein Ziel hin auszurichten, entstanden umfassende Texte, in denen altes und neues Recht zusammengeführt wurde. Päpste, Kaiser, Könige, Städte und Orden schufen – gestützt auf ihre an den Universitäten ausgebildeten Fachleute – neues Recht oder erneuerten altes und ließen Kodifikationen, Statuten und Konstitutionen anlegen, die in Form von Einzelentscheidungen und abstrakten Normen das Recht ihrer Untergebenen oder Mitglieder regelten. Juristisch gebildete Laien brachten die Rechtsgewohnheiten ihrer Länder in eine Schriftform. Besonders bekannt sind die Werke De legibus et consuetudinibus regni Angliae für England und der Sachsenspiegel des Eike von Repgow für das östliche Sachsen, beide aus der ersten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts. Insgesamt lässt sich eine Intensivierung des Rechtslebens feststellen, die mit einem Prozess der Herrschaftsverdichtung zusammenfiel. Dieser fand seinen deutlichsten Ausdruck in der Zentralisierung der römischen Kirche, im Territorialisierungsprozess der deutschen Länder, im Erstarken der west- und südeuropäischen Monarchien und in der expandierenden Statutengesetzgebung der oberitalienischen Städte.


Bettelmönche wie der heilige Dominikus sahen sich als Erneuerer der Kirche, Fresko von Fra Angelico
Abb.: KHI

Fasst man diese hochmittelalterlichen Veränderungen zusammen, so könnte man von einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen sprechen: Mit dem im dreizehnten Jahrhundert bemerkbaren „Aufbruch zur Vielfalt“ (M. Borgolte) in geistiger, sozialer und ökonomischer Hinsicht entstanden zugleich auch Gegengewichte politischer und rechtlicher Art, die das soziale Ganze zusammenhalten und das Funktionieren der einzelnen Teile gewährleisten sollten. Die dialektischen Grundlagen der modernen Gesellschaft westlicher Prägung bekamen Kontur: eine Vergrößerung des individuellen Handlungsspielraums auf der einen und die Zunahme neuer Kontroll- und Regulierungsmechanismen auf der anderen Seite. Als Katalysatoren dieser gesellschaftlichen Formierung – zugleich Begleiter des gesellschaftlichen Aufbruchs und neuartige Instanz der Sozialkontrolle – wirkten die Bettelmönche, insbesondere die beiden großen Bettelorden der Franziskaner und Dominikaner.

Franziskus und Dominikus suchten in den ersten Jahrzehnten des dreizehnten Jahrhunderts nach neuen Lösungen für die religiösen Probleme ihrer Epoche. Der Erfolg, den sie mit ihren Methoden des Bettelns und Predigens hatten, führte den Zeitgenossen deutlich vor Augen, dass die neuen Orden die religiösen Bedürfnisse der Laien besser als andere Gemeinschaften befriedigen konnten, und erfüllte die Ordensmitglieder zur gleichen Zeit mit Stolz. Bald fühlten sich die Bettelmönche als Erretter einer verweltlichten und von Irrlehren bedrohten Kirche. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass Franziskaner wie Dominikaner die Rettung der wankenden Lateranbasilika, von der angeblich Papst Innozenz III. geträumt hatte, dem jeweils eigenen Ordensgründer zuschrieben. Kein Bild illustriert das Selbstverständnis der Bettelmönche auf anschaulichere Weise: Sie sahen sich als Erneuerer der Kirche, da allein sie – ihrem Selbstverständnis gemäß – die neue geistige Elite bildeten, die angetreten war, die Welt zu bessern und eine verirrte Gesellschaft auf den Weg der Tugend zurückzuführen.


Grundriss einer franziskanischen Kirche in Salzburg
Abb.: KHI

Das Ziel der Bettelorden war, neben der Selbstheiligung durch ein christusgleiches Leben, die Errettung anderer Menschen durch eine zeitgemäße Seelsorge, die mit Worten und Taten betrieben wurde. Die besondere Nähe zum Papsttum, eine überdurchschnittliche Bildung und das pastorale Ordensziel motivierten die Bettelmönche, sich als entscheidenden gesellschaftlichen Ordnungsfaktor zu empfinden. Diese Selbststilisierung brachte als vornehmste Pflicht die Aufgabe mit sich, die laikale Gesellschaft zu ordnen und zu führen. Zu diesem Zweck musste jeder einzelne Laie sorgsam darin unterwiesen werden, was er zu tun und was er zu lassen hatte. Anhand von drei Feldern lässt sich dieses Bemühen besonders deutlich zeigen: Stadt und Arbeit, Individuum und Gewissen, Recht und Geschichte.

Für Kleriker und Mönche aus den traditionellen Orden war die Stadt vor allem ein Ort der Sünde. Erst die Bettelmönche überwanden diese Vorurteile und setzten sich differenzierter mit dem anwachsenden Bürgertum und seinen religiösen Bedürfnissen auseinander. Dies ist wenig überraschend, waren die jungen Bettelorden doch parallel mit der Expansion der Städte gewachsen, gleichsam als geistig-religiöse Antwort auf die neuartige mentale und geographische Mobilität der urbanen Laienwelt. Wollte die Kirche in den expandierenden Städten erfolgreich sein, so musste sie auf die Besonderheiten der Lebens- und Arbeitsbedingungen der urbanen Bevölkerung eingehen und eine Sichtweise gegenüber der Stadt und ihren Bewohnern entwickeln, die sich nicht darauf beschränkte, Handel, Gewerbe und Geldverkehr zu schmähen, sondern es ermöglichte, die beruflichen und wirtschaftlichen Notwendigkeiten einer monetär geprägten Umwelt aufzugreifen.

Berthold von Regensburg, einer der erfolgreichsten Franziskanerprediger des dreizehnten Jahrhunderts, offenbart die neue Sicht in seiner Predigt Verlasst Babylon. Dort wurden zwar alle Verfehlungen aufgezählt, die Menschen in der Stadt häufig begingen, wie das Streben nach unehrlichem Gewinn, Betrug und falsche Maße, politische Verschwörungen und ständiger Streit, doch Berthold pries auch das Leben in der Stadt: „Unter den Menschen leben die Bürger ruhiger und angenehmer als alle anderen. Wie nämlich die Ritter auf ihren Burgen und die Bauern in ihren Dörfern leben, ist bekannt. Häufig fehlt ihnen das Wasser, vom Wein gar nicht zu reden. Die Bürger der Städte dagegen besitzen reichlich von allem, was in den Weinbergen, in den Wäldern, in den Flüssen und in der Luft zu finden ist. Zu welchem Zweck? Um freier und freudiger Gott dienen zu können.“


Franz von Assisi. Die Vertreibung der Dämonen aus Arezzo
Abb.: KHI

Mit dieser Würdigung des städtischen Lebens ging jedoch auch seine Regulierung einher. Die Bettelmönche gaben sich nämlich nicht damit zufrieden, die Stadtbewohner an ihre Gebetspflichten und karitativen Aufgaben zu erinnern, sondern versuchten, das Leben der Menschen umfassend zu normieren. Zu diesem Zweck förderten sie eine neuartige Vorstellung von der Berufspflicht, der sich jeder einzelne Bürger zu unterwerfen hatte. Gemäß dem Arbeitsethos der Bettelmönche hatte jeder Mensch seinen Beruf von Gott erhalten. Zu den obersten Zielen eines gottgefälligen Lebens gehörte, diesen Beruf gewissenhaft auszuüben und als Berufung zu betrachten. Berthold von Regensburg schrieb darüber: „Welchen Beruf du aber auch immer ausüben magst, du sollst nicht murren: ‚Ach, Herr Gott, warum hast Du mir einen so mühseligen Stand zugewiesen, vielen anderen aber hohes Ansehen und Besitz?‘ Das darfst du nicht tun! Statt dessen sprich: ‚Herr, sei gepriesen wegen all deiner Gnade, die du mir erwiesen hast und auch weiterhin erweisen wirst.’ Denn falls er dir einen angeseheneren Beruf hätte zuerkennen wollen, hätte er dies auch getan.“

Zwar genoss der Mensch in der Stadt größere individuelle Freiheiten als die Landbewohner früherer Jahre, doch zugleich wurde der spätmittelalterliche Städter einem neuen Normierungsdruck ausgesetzt. Für Berthold von Regensburg und seine Mitbrüder zählten nicht mehr Abstammung oder Rechtsstatus einer Person, wie dies in früheren Interpretationen sozialer Realität üblich gewesen war, sondern die individuelle Arbeitsleistung. Auf einer religiösen Ebene führten nicht Geburtsprivilegien oder asketische Lebensform, sondern die getreue Erfüllung des irdischen Berufs zum Heil. Auf der sozioökonomischen Ebene wurden unfreie Personen, die Zwangsabgaben und unbezahlte Leistungen zu erbringen hatten, zunehmend von Menschen abgelöst, die sich als freie Produzenten gegenübertraten. Es dominiert eine Grundhaltung, die von rechtlichen Abhängigkeiten und ständischen Differenzierungen absieht und das gemeinsame Schicksal der Christenheit als Glieder einer arbeitsteiligen Gesellschaft in den Vordergrund rückt. Das Geflecht, das die Menschen auf vielfältige Weise miteinander verbindet, besteht aus Geldgeschäften, Marktgesetzen, Dienstleistungen und gegenseitigem Nutzen. Die Haltung der Bettelorden gegenüber den urbanen und sozioökonomischen Umwälzungen des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts war demnach von zweifacher Ausrichtung: Einerseits verchristlichten sie die neuen städtischen Lebensformen und verliehen ehemals verdammten Berufen wie dem Kaufmannsstand eine kirchliche Legitimation, andererseits machten sie die getreue Erfüllung der Berufspflicht zur Voraussetzung für ein gottgerechtes Leben. Dies förderte nicht nur eine sorgsame Planung der vita activa, sondern führte auch zu einer Diffamierung von Armut und Müßiggang, war man doch davon überzeugt, dass Arbeit nicht nur vor der Hölle, sondern auch vor Armut schütze. In der Realität war dies während der Krisen des späten Mittelalters allerdings nicht immer der Fall. Die Bettelmönche hatten so zur Entstehung einer Arbeits-ethik beigetragen, die den beruflichen Erfolg religiös überhöhte und den beruflichen Misserfolg der Verachtung auszusetzen begann.

Verknüpft mit den sozioökonomischen Veränderungen des hohen Mittelalters beschleunigte sich seit dem elften Jahrhundert ein allgemeiner Individualisierungsprozess. Komplizierter werdende Gesellschaftsstrukturen und die gleichzeitige Erosion überlieferter Bindungen führten dazu, dass Menschen verstärkt eigenverantwortlich handeln mussten und dabei zunehmend die eigene Isolierung und Einsamkeit wahrnahmen. Die verstärkte Hinwendung zum einzelnen Menschen führte jedoch nicht allgemein zu einer positiven Würdigung des Individuums, wie dies die Gedanken zum „Elend des menschlichen Daseins“ von Papst Innozenz III. Ende des zwölften Jahrhunderts zeigen: „Der Mensch ist gemacht aus Staub, Kot und Asche. Geboren wird der Mensch, damit er arbeitet, sich ängstigt und leidet. Er tut Böses und beleidigt damit Gott, seinen Nächsten und auch sich selbst. Er handelt schändlich und setzt seinen guten Ruf aufs Spiel, befleckt seine Person und sein Gewissen. Er hängt sich an Nichtigkeiten und verachtet alles Ernsthafte, Nützliche und Notwendige.“

Einen positiveren Zugang zum Menschen in seiner irdischen Gestalt fanden die Bettelmönche während des 13. Jahrhunderts. Gemeinsam mit allen von Gott geschaffenen Wesen und Dingen erhielt der individuelle Mensch eine zuvor nicht gekannte Würde und Wertschätzung, die etwa Franzikus in seinem Sonnengesang literarisch behandelte. Für den Heiligen aus Assisi stand der Mensch inmitten einer göttlich schönen Schöpfung, in der alle Lebewesen gemeinsam das Loblied Gottes sangen. Wie alle von Gott geschaffenen Dinge war auch der Mensch gut und würdevoll. Es entsprach dieser Haltung, wenn der Franziskaner Bonaventura die Auffassung vertrat, dass der Mensch die sichtbare Schöpfung mit seinem Verstand erfassen und ihn dieses wachsende Verständnis seinem Schöpfer nahe bringen könne. Der einzelne Mensch, geschaffen nach dem Ebenbild Gottes, Interpret der Schöpfung und Stimme des Schöpfers, stehe daher über allen anderen Lebewesen.

Zweifellos hat dieses positive Menschenbild etwas mit der franziskanischen Hinwendung zur städtischen Seelsorge beziehungsweise mit der Akzeptanz der sozialen Wirklichkeit zu tun. Der mendikantische Realitätssinn hatte sich bereits in der Verchristlichung städtischer Lebensformen gezeigt. Die damit verbundene Würdigung des einzelnen Gesellschaftsmitglieds bildete nicht nur die Voraussetzung erfolgreicher Pastoraltätigkeit, sondern war daneben auch eine logische Konsequenz einer Spiritualität, die es als ihre vornehmste Aufgabe betrachtete, die den Bettelmönchen anvertraute Herde auf ihrem schwierigen Weg zum Heil zu begleiten. Nicht die Ablehnung der urbanen Realität, sondern deren Formung nach Gottes Geboten bildete das Programm franziskanischer Seelsorge.

Eine Zunahme individueller Freiheit verlangte in den Augen der Bettelmönche jedoch auch nach einer Zunahme der Kontrolle: Der Prozess der Individualisierung wurde daher mit neuen Regulierungsmechanismen eingefangen und kanalisiert. Zur erfolgreichsten Methode der Disziplinierung des Einzelnen entwickelte sich die Beichte. Papst Innozenz III. und die Prälaten, die auf dem IV. Laterankonzil 1215 über die Reform der Kirche berieten, hatten durch den berühmten Kanon Omnis utriusque sexus fidelis die jährliche Beichte jedes Christen zum Bestandteil des allgemeinen Kirchenrechts gemacht und damit eine subtile Technik der Gewissenserforschung in ein verbindliches Merkmal christlicher Lebensführung verwandelt. Die Einhaltung der Beichtpflicht wurde streng kontrolliert: Beichtlisten und Beichtzettel, auf denen Geistliche die Ablegung der Beichte und die Lossprechung von den Sünden schriftlich bestätigten, dienten der bürokratischen Überwachung der Gläubigen. Für Versuche, sich der Beichtpflicht zu entziehen, standen der Pranger oder – in letzter Konsequenz – der Scheiterhaufen bereit, da als Häretiker galt, wer die Beichte dauerhaft verweigerte.

In so genannten „Beichtsummen“ wurde erörtert, wie der Priester einem Sünder die Beichte abzunehmen hatte, welche Fragen zu stellen und welche Bußleistungen zu vollbringen waren. Bis ins 16. Jahrhundert hinein erfreuten sich diese Handbücher großer Beliebtheit, bildeten sie als Lehrbücher der Sündenzucht doch die Grundlage für die Bestimmung der individuellen Sündenschuld in Anbetracht der jeweiligen Umstände. Ihre Hauptfunktion lag darin, in einer komplexer werdenden Welt durch die umfassende Diskussion allgemeiner moralischer Prinzipien dem Beichtvater und über ihn auch dem Beichtkind moralische Sicherheit zu bieten. Bezeichnenderweise stammen die erfolgreichsten Beichtbücher des späten Mittelalters von Mitgliedern der Bettelorden.


Mantelteilung des Franz von Assisi
Foto: KHI

Für Bettelmönche stellte die Beichte ein wichtiges Medium der Seelsorge dar. Nur durch die intensive Auseinandersetzung mit dem Innenleben des Einzelnen konnte verhindert werden, dass die Laien ihre neu gewonnenen Freiheiten in den Städte dazu benutzten, sich von Gott und der Kirche abzuwenden. Die Prediger aus den Bettelorden kämpften daher an vorderster Front im kirchlichen Werbefeldzug für die Durchsetzung der regelmäßigen Beichtpflicht. Das Bußsakrament wurde zum Schlüssel für die Erlangung des ewigen Lebens erklärt; der Teufel als Figur geschildert, die, ausgestattet mit unzähligen Verführungskünsten, beständig versuche, den Menschen daran zu hindern, wahre Reue zu empfinden, eine vollständige Beichte abzulegen und die Buße korrekt durchzuführen. Unnütz und sinnlos sei eine Beichte, die nicht alle begangenen Sünden erwähne oder lediglich summarisch und undifferenziert auf diese verweise. Die große Scham, die der einzelne dabei empfinden möge, müsse überwunden werden, sei es doch besser, sich schamvoll einem verschwiegenen Priester anzuvertrauen als am Tag des Jüngsten Gerichts vor Gott und allen Heiligen bloßgestellt zu werden. Mit solchen Aussagen erfüllten die Bettelmönche den abstrakten Rechtskanon des IV. Laterankonzils mit Leben – und die laikale Bevölkerung mit Angst. Damit sollte sichergestellt werden, dass die mendikantische Seelsorge ihr Ziel erreichte: den Menschen des 13. Jahrhunderts nicht mehr zu entreißenden äußeren Freiheiten zu belassen und sie gleichzeitig neuen Formen der inneren Überwachung zu unterwerfen.

Eingebettet wurde diese neuartige Freiheits- und Kontrollökonomie in eine heilsgeschichtliche Perspektive, die Geschichte und Recht eng miteinander verknüpfte. In ihren Geschichtswerken betonten die Bettelmönche immer wieder die Relevanz rechtlicher Verordnungen und richterlicher Handlungen. Weltliche Herrscher erschienen ihnen vorbildhaft, wenn sie sich als gerechte Richter hervorgetan hatten; von Päpsten ist häufig in ihrer Eigenschaft als Gesetzgeber die Rede. Bisweilen dienten die historiographischen Werke in erster Linie dazu, die historische Genese des geltenden Rechts aufzuzeigen. So reduzierte etwa der unbekannte Autor der Erfurter Minoritenchronik (entstanden um 1270) seine Geschichtsdarstellung auf die legislative Tätigkeit des Papsttums. Der Text liest sich dementsprechend über weite Strecken wie eine Auflistung päpstlicher Gesetze. Die „Verrechtlichung der Geschichte“ hatte in diesem Werk ihren mittelalterlichen Höhepunkt erreicht.

Gleichzeitig propagierten die Bettelmönche eine „Historisierung des Rechts“, das heißt, sie versuchten, die normativen Rechtstexte ihrer Gegenwart durch eine Verankerung in der Geschichte zu authentisieren. Zu diesem Zweck verfassten etwa die deutschen Franziskaner, als sie den niederdeutschen Sachsenspiegel in den oberdeutschen Schwabenspiegel umformten, eine historische Einleitung, die die Sätze des Rechtsbuches gleichsam legitimieren sollte. Das Geschichtsbuch bildete gewissermaßen die historische Illustration und Begründung dessen, was das Rechtsbuch in seine Artikel fasste. Damit sollte sinnfällig werden, dass das Recht in der Beglaubigung durch die Heilige Schrift und in der Berufung auf die gesetzgeberischen Autoritäten der Heilsgeschichte seine Legitimität erhält. Da jedoch dem mendikantischen Geschichtsverständnis entsprechend auch aus der Historie Lehren für das gegenwärtige Leben zu ziehen sind, bilden Geschichte und Recht im Grunde nur zwei unterschiedliche Medien, die dieselbe ethisch normierende Botschaft transportieren. Während die Geschichtschronik in diachron erzählender Form beispielhaft die Regeln eines guten Lebens bestimmt und vor dem sündhaften Lebenswandel warnt, geschieht dies im Rechtstext auf synchrone, normative Weise. Eine solche Zusammenbindung von Recht und Geschichte musste einem franziskanischen Gelehrten geradezu natürlich erscheinen, standen doch Gesetz und Historie vereint im Dienst der gesellschaftlichen Normierung und Ordnung.

Die drei ausgewählten Bereiche Arbeitsethos, Beichte und Recht sollten die Reaktion der Bettelmönche auf den politischen und sozioökonomischen Wandel der hoch- und spätmittelalterlichen Gesellschaft veranschaulichen. Soziale Emanzipation, Individualisierung und Mobilität hatten im Laufe des hohen Mittelalters Unklarheiten und Unsicherheiten erzeugt, die mit herkömmlichen Mitteln nicht aufgefangen werden konnten. Als Erretter der Kirche angetreten, scheuten sich die Mendikanten nicht, die gesellschaftliche Aufgabe wahrzunehmen und scheinbar antagonistische Pole zu verbinden, indem sie beide Entwicklungsströme – den gesellschaftlichen Aufbruch auf der einen, neue Kontrollmechanismen auf der anderen Seite – bejahten und förderten. Die religiöse Bewegung, gleichsam als Achse im Zentrum verschiedener Parallelentwicklungen thronend, formte die Gesellschaft gemäß einer Dialektik von Diversifizierung und Kontrollverdichtung. Dieses Prinzip des gleichzeitigen Zerstörens und Schaffens von Sicherheiten sollte den sozialen Wandel europäischer Gesellschaften auch in Zukunft maßgeblich prägen.

Literatur:

Ertl, T.: Auf der Suche nach Zucht und Ordnung. Die Mendikanten des 13. Jahrhunderts zwischen Pluralisierung und Kontrollverdichtung, in: Zeitschrift für historische Forschung 29 (2002) 483–523.

Ertl, T.: Religion und Disziplin. Selbstdeutung und Weltordnung im frühen deutschen Franziskanertum. Habilitationsprojekt, Freie Universität Berlin 2005.

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„Jetzt haben wir Frieden und Sicherheit“
Von der Unsicherheit der Sicherheit aus biblischer Sicht


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