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Erdbeben nach Stundenplan

Erdbebensicherheit im Gespräch: Lassen sich tektonische Schwankungen vorhersehen?


Interview mit Mark Handy

Bisher gibt es kein sicheres Verfahren, um Erdbeben vorherzusagen. Noch heute wird die Erdbebenwahrscheinlichkeit für bestimmte Regionen anhand der Häufigkeit und der Magnitude von großen Erdstößen errechnet. Das ist alles andere als zuverlässig. Frühere Erdbeben hinterlassen jedoch Spuren, die helfen könnten. Auf die Suche nach ihnen begibt sich der FU-Wissenschaftler Mark Handy. Im Interview mit fundiert erklärt er, wie eine alternative Methode zur Erdbebenvorhersage aussehen könnte.

fundiert: Sie sind Paläoseismologe. Was kann man sich darunter vorstellen?

Handy: Grundsätzlich ist die Paläoseismologie nur eine unserer Tätigkeiten. Meine Mitarbeiter und ich sind Tektoniker und beschäftigen uns mit der Struktur und der Mechanik der Erde. Besonders interessieren wir uns für Gesteinseigenschaften in Störungszonen, also enge Bereiche, entlang derer sich die Erde bewegt, zum Beispiel an den Rändern von tektonischen Platten. Unter den vielen Vorgängen dort – etwa die Zirkulation von Gewässern oder die Ablagerung von mineralischen Rohstoffen – finden seismische Ereignisse, also Erdbeben, statt. Erdbeben hinterlassen Spuren im Gestein und wir untersuchen diese Spuren, um mehr über Seismizität und ihre Ursachen zu lernen. Das ist Paläoseismologie! Anhand der Strukturen und Minerale im Gestein kann man in etwa abschätzen, wie groß die seismischen Ereignisse waren, in welchen Tiefen sie entstanden sind. Aber wir untersuchen nicht nur Störungszonen. Wir führen auch Laborexperimente durch und erstellen Rechenmodelle, um unsere Ideen über Gesteinsmechanik zu prüfen. Ein multidisziplinärer Ansatz ist hier unabdingbar! Deshalb ist unsere Gruppe an der FU multidisziplinär zusammengesetzt: Neben Geologen enthält sie einen Physiker und einen Petrologen. Wir arbeiten auch eng mit Kollegen anderer Fachrichtungen, etwa in der Geophysik, Geochemie und Mineralogie, sowie in der Oberflächenprozesse-Forschung, zusammen. Paleoseismologie erfordert eben einen breiten Ansatz.

fundiert: Wie sieht Ihr typischer Arbeitsalltag aus?

Handy: Als erstes suchen wir so genannte fossile Störungszonen, also Störungszonen, die nicht mehr aktiv sind, und die durch Hebung und Erosion an der Erdoberfläche freigelegt wurden (Abbildung Seite 44). Anhand von geologischen Kartierungen haben wir schon eine Ahnung, wo solche Zonen gut erhalten sind. Um die Struktur dieser Zonen zu erfassen, reisen wir meist in jungen Gebirgsketten mit hohem Relief, wie zur Zeit in den Alpen (Titelbild) oder Pyrenäen. Einmal vor Ort, ziehen wir mit Rucksack, Feldbuch und Kamera los, um die Strukturen, die mit Erdbeben assoziiert sind, zu dokumentieren und zu messen. Dies klingt etwas einfacher als es tatsächlich ist, weil wir dabei die Geschichte der Gesteine verstehen müssen, also ältere von jüngeren Strukturen unterscheiden müssen, bevor wir mit Gewissheit sagen können, welche Störungszonen wann seismisch aktiv waren. Die Dokumentation der Störungen findet in allen Maßstäben statt und erfordert deshalb den Einsatz von verschiedenen Methoden, von normalen Kamerabildern über Luftaufnahmen bis hin zu Satellitenaufnahmen. Diese Geländearbeit kann schön sein, erfordert aber auch eine gute körperliche Konstitution, weil man dem Wetter und der Höhe ausgesetzt ist. Wieder zu Hause, messen wir in Gesteinsproben die chemische Zusammensetzung der Minerale im Mikro- bis Nannometerbereich, um die thermische und barometrische Geschichte des Gesteins zu interpretieren. Sie sehen also, es gibt bei uns eigentlich keinen typischen Alltag.


Mark Handy am Rand eines aktiven Vulkans in den südlichen Anden
Foto: Handy

fundiert: Woran können Sie erkennen, dass Erdbeben stattgefunden haben?

Handy: Es gibt verschiedene Indikatoren, je nachdem in welchen Gesteinen man sucht: An der Erdoberfläche erzeugen Erdbeben Verschiebungen von Sedimenten, zum Beispiel Erdrutsche oder Gesteinslawinen. Die Spuren dieser Verschiebungen sind chaotische Sedimentstrukturen und morphologische Absätze, die in Gesteinsschichten erhalten bleiben (Abbildung rechts und Seite 44). An den Bruchflächen selbst entsteht durch Reibung eine enorme Hitze, die zur Aufschmelzung des Gesteins führen kann. Weil Gesteinen schlechte Wärmeleiter sind, bleiben die angrenzenden Gesteine kühl, was zur raschen Abkühlung der Schmelze und zur Bildung von Gesteinsglas führt. Also erkennen wir alte Erdbeben anhand von natürlichem Glas, so genanntes Pseudotachylit (Abbildungen Seite 45, 46, 47). Wenn wir das Ausmaß der Bruchfläche, den Versatz an der Bruchfläche und die Menge und Zusammensetzung des Glases messen, dann können wir mit thermodynamischen Modellen die Bewegungsgeschwindigkeit entlang der Störung zur Zeit der Entstehung der Schmelze berechnen.


Durch Erdbeben gehobene Holozäne Strandterassen (vor etwa 125.000 Jahren) an der pazifischen Küste, südliche Anden (Chile)
Foto: Handy

fundiert: Wie hoch sind dabei die Geschwindigkeiten?

Handy: Etwa sechs bis sieben Kilometer pro Sekunde, also die Geschwindigkeit von Schall im Gestein der Erdkruste. Dieser Wert deckt sich auch mit den Ausbreitungsgeschwindigkeiten von Spaltflächen an aktiven Störungszonen, wie etwa kürzlich beim großen Erdbeben vor Sumatra. Allerdings waren unsere bisher untersuchten fossilen Erdbeben mit Bewegungen von wenigen Zentimetern bis Metern und Flächen von einigen Quadratmetern weit kleiner. Es waren mikroseismische Ereignisse, also geschätzte Magnituden von nicht mehr als zwei oder drei. Zum Vergleich: Beim Sumatra-Beben vom 26. Dezember 2004 handelte es sich um einem Ereignis mit der Magnitude 9,3, das entlang einer riesigen Bewegungsfläche etwa 1200 Kilometer lang und 200 Kilometer breit abgelaufen ist – das ist etwas größer als die Fläche von Italien. Und die Bewegung selbst hielt mit etwa acht bis neun Minuten außergewöhnlich lange an.

fundiert: Können Sie anhand Ihrer Erkenntnisse Erdbeben vorhersagen?

Handy: Also doch die ewige Frage! Nein, unsere gegenwärtige Forschung ist grundlegender Natur und zielt zunächst auf ein besseres physikalisches Verständnis von tektonischen Störungen insgesamt, also nicht nur der Seismizität, sondern auch verwandten Prozessen wie zum Beispiel das plastische Kriechen von Gestein bei hohen Temperaturen oder die Wegsamkeit von Fluiden, etwa Wasser oder Gesteinsschmelze. Ein besseres Verständnis dieser Prozesse ist die Voraussetzung für zuverlässigere Erdbebenprognosen. Und nebenbei dient sie ganz anderen Zwecken, etwa der Suche nach Rohstoffen. Wir setzen also auf einen umfassenden physikalischen Ansatz. Insofern dient unsere Forschung schon der Vorhersage von Erdbeben, aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Dieser Ansatz ist auch ein ganz anderer als er zur Zeit von Behörden und Rückversicherungsfirmen in erbebengefährdeten Gebieten angewendet wird.


Mark Handy bei der Arbeit (ohne „Handy“, aber mit Feldbuch) in den östlichen Pyrenäen, an der Mittelmeerküste
Foto: Handy

fundiert: Was sind die Probleme mit dem gegenwärtigen Ansatz?

Handy: Sehen Sie, die gegenwärtige Erdbebenprognosen basieren im Wesentlichen auf einem statistischen Verfahren. Einfach gesagt: Man misst die Häufigkeit und Magnitude, das heißt die freigesetzte Energie von Erdbeben und stellt dabei regelmäßig fest, dass es zwischen diesen Größen eine log-lineare Beziehung gibt, die so genannte Gutenberg-Richter-Beziehung: Die schwächsten Erdbeben kommen häufiger vor, die starken ganz selten. Diese Beziehung ist gebietsabhängig und liefert deshalb Seismologen ortsspezifische Angaben über die durchschnittliche Wiederkehrzeit eines Bebens mit einer bestimmten Magnitude. Damit werden so genannte Risikokarten erstellt, auf denen eingezeichnet ist, mit welcher Wahrscheinlichkeit man innerhalb der nächsten Jahre eine bestimmte Intensität oder Bodenbeschleunigung erfahren wird. Mit Hilfe einer solchen Karte kann man sagen: Hier passieren im Schnitt viele gefährliche Beben, dort nicht, also kann ich dort beispielsweise mein Haus bauen. Mit diesem Ansatz gibt es aber mehrere Probleme: Ersten sind Wahrscheinlichkeitsberechnungen nur so gut wie die Erfassung der seismischen Geschichte in einem Gebiet. Moderne geophysikalische Messungen von Erdbeben gibt es jedoch erst seit 100 Jahren, hochauflösende Methoden sogar erst seit 20 bis 30 Jahren. Und diese Zeitspanne ist viel kürzer als die Wiederkehrzeit von großen Erdbeben, selbst entlang von sehr aktiven tektonischen Platten wie zum Beispiel in südwestlichen Pazifik. Die Informationslücken in der Beziehung zwischen Häufigkeit und Magnitude werden immer größer, je kleiner man das Gebiet wählt. Unter Umständen kann künftig ein großes Beben genau dort auftreten, wo bisher keines je registriert wurde. Historische Überlieferungen über Zerstörung infolge von starken Beben helfen uns zwar diese Wissenslücken zu füllen, geben uns jedoch keine genauen Angaben zur Magnitude oder zum Ort, wo die nächsten großen Beben ausgelöst werden. Ein zweites Problem des statistischen Ansatzes ist, dass die Beziehung zwischen Häufigkeit und Magnitude die eigentlichen Ursachen der registrierten Ereignisse nicht widerspiegelt. Aufgrund unserer Forschung wissen wir aber, dass Erdbeben in 700 Kilometern Tiefe durch ganz andere Mechanismen entstehen als Erdbeben in zehn bis 20 Kilometern Tiefe in der Erdkruste. Gerade in dieser Hinsicht versuchen wir Neuland zu betreten.


Mikroskopische Aufnahme einer Mineralumwandlung in einer Störungszone des Erdmantels, ursprünglich in 45 Kilometern Tiefe (Alpen). Pfeile zeigen die Bewegungsbahn, entlang der die sehr feinen (25 Mikrometer) Umwandlungsprodukte (die Minerale Feldspat, Amphibol) gebildet werden. Edukte sind die Minerale Olivin (Ol), Pyroxen (Px), Spinel (Sp) sowie etwa 0,1 Gewichtsprozent Wasser
Foto: Handy

fundiert: Welche Ursachen und Mechanismen sind es?

Handy: Stellen Sie sich einen Gesteinsblock vor, der in mehreren 100 Kilometern Tiefe unter Spannung steht. Zuerst ist dieser Block stabil und hält diese Spannung aus. Wächst jedoch die Spannung, zum Beispiel infolge einer tektonischen Plattenverschiebung, dann werden die Minerale im Gesteinsblock chemisch unstabil und wandeln sich in andere, kompaktere Mineralphasen um (Abbildung Seite 42 unten). Ein Prozess, bei dem sich das Volumen des Gesteins von einer Sekunde auf die andere verändert und Energie teilweise als elastischen Wellen freisetzt. Das ist ein anderer Mechanismus als in Tiefen von 10 bis 15 Kilometern, wo die Reibung und die Oberflächeneigenschaften von existierenden Brüchen im Gestein bei der Entstehung von Erdbeben eine wesentlich größere Rolle spielen. Man sieht also, dass die Ursachen eines Bebens stark von der Entstehungstiefe und den Gesteinseigenschaften abhängig sind. Entsprechend unterschiedlich sind dann auch die Zeitabhängigkeiten dieser zwei Mechanismen. Solange wir nicht in der Lage sind, genau zu sagen, wie Erdbeben entstehen und welche Prozesse dabei ablaufen, können wir sie eigentlich nicht vorhersagen.


Gehobene Welleneinschnitte (Pfeile) infolge des Erdbebens von 1835 (geschätzte Magnitude 8,5) an der pazifischen Küste, südliche Anden (Chile)
Foto: Handy

fundiert: Das heißt, man ist erst am Anfang der Forschung?

Handy: Man versteht schon eine Menge über die potentiellen Auslöser von mechanischen Instabilitäten, darunter auch Erdbeben, aber man weiß relativ wenig über deren Ablauf, vor allem über die Verkettung und Rückkoppelung der Deformationsprozesse in Störungszonen. Gerade dieses Verständnis ist jedoch Voraussetzung für die Erstellung von verbesserten mechanischen Modellen, die die Basis von künftigen Erdbebenvorhersagen bilden werden. Das ist Zukunftsgebiet der Forschung: Anhand der Zusammenhänge zwischen Materialeigenschaften, Verformung und Spannung mathematische Beziehungen herzuleiten, die es uns erlauben, eine Aussage zu treffen, wann und wo eine Instabilität eintreten wird, also ein deterministisches, physikalisches Modell. Es gibt schon Rechenmodelle, die erdbebenähnliches Verhalten zeigen, aber sie eignen sich vorläufig nur für Studienzwecke, keineswegs für Prognosen von Erdbeben in natürlichen Störungszonen. Die Forschung auf diesem Gebiet steckt noch in den Kinderschuhen.

fundiert: Wo liegt die größte Herausforderung der künftigen Forschung?

Handy: Es gibt viele, aber einer der grundsätzlichsten ist sicherlich die Überprüfbarkeit der Modelle. Wir leben während einer relativ kurzen Zeit, Jahrzehnte bis maximal etwa 100 Jahre. Erdbeben passieren zwar in Sekunden bis Minuten, aber das Zeitintervall zwischen großen Beben – der Dauer des so genannten Erdbebenzyklus – ist in gewissen Gebieten mit tausend bis hunderttausend Jahren viel länger. Wir sind also Gefangene unserer Zeit- und Raumdimensionen und können unsere Prognosen der größten Erdbeben, wenn sie denn überhaupt stimmen, eventuell nie erleben.

fundiert: Selbst wenn Sie ein deterministisches Modell für die Erdbeben hätten, könnten Sie noch keine Vorhersagen für Nachbeben aufstellen?

Handy: Noch nicht. Aber die Fortschritte, die zur Zeit erzielt werden, beziehen zum ersten Mal die Nachbeben mit ein. Früher wurden Nachbeben so gut wie gar nicht berücksichtigt, weil man davon ausging, dass sich die Erde nach einem großen Erdbeben soweit entspannt, dass Nachbeben das Spannungsfeld im Bereich einer Störung nicht wesentlich beeinflussen. Diese Annahme stimmt nachweislich nicht, und man weiß jetzt, dass Nachbeben sehr wichtig sind, um das gesamte Störungssystem zu charakterisieren. Und es gibt neue Rechenmodelle, die die Eigenschaften von Nachbeben entlang der San Andreas Störung in Kalifornien (USA) simulieren können; in dem, zum Beispiel, die Verlagerung von Spannung zwischen benachbarten Störungen in den obersten zehn Kilometern der Erdkrusten, oder die Migration von Wasser im Gestein berücksichtigt werden.

fundiert: Wie steht es mit Seebeben, wie jüngst in Sumatra, das die verheerenden Tsumani im indischen Ozean ausgelöst haben?

Handy: Beben zu See sind ebenso schwer vorherzusagen wie Beben auf Land. Nur zur klaren Trennung der Begriffe: Tsunamis sind riesige Wellen, die durch den ruckartigen Versatz der ozeanischen Wassersäule entstehen. In Bezug auf die Vorhersage von Tsunamis gibt es zwei Probleme: Erstens, viele Erdbeben laufen an Bruchflächen ab, die den Meeresboden und damit auch die darüber liegende Wassersäule nicht versetzen. Die große Mehrheit der stärksten Beben laufen sogar in Tiefen von mehr als 100 Kilometern ab, viel tiefer als die 30 Kilometer des Sumatra-Bebens vom 26. Dezember 2004. Zweitens, Tsunamis werden häufig nicht von den direkten, sondern von den indirekten Folgen eines Erdbebens ausgelöst. Die indirekten Folgen sind selber schwer vorherzusagen. Zum Beispiel sind sich jetzt Meeresforscher ziemlich sicher, dass die Tsunami im indischen Ozean von einem Hangrutsch riesigen Ausmaßes ausgelöst wurde. Der Hangrutsch wurde wiederum vom großen Beben ausgelöst. Aber nicht immer gibt es einen instabilen Hang in der Nähe des Epizentrums eines Seebebens. Das Beste, was man derzeit im indischen Ozean tun kann, um die Bevölkerung der Anrainerstaaten zu schützen, ist ein Frühwarnsystem zu installieren. Das sagt zwar keine Tsunamis voraus, aber es verschafft überlebenswichtige Zeit für die Menschen an den entfernten Küsten. Gerade an einem solchen System arbeiten bekanntlich unsere Kollegen am GeoForschungsZentum Potsdam, und Deutschland macht es mit finanzieller Unterstützung möglich.

fundiert: Solche Seebeben können theoretisch also jederzeit wieder passieren?

Handy: Ganz sicher, und nicht nur theoretisch. Es gibt Kollegen, die schon vor dem großen Sumatra-Beben öffentlich bemerkt haben, dass es in West-Indonesien Gesteinsformationen mit chaotischen Schichten gibt, die frühere Tsunamis dokumentieren – wahrscheinlich ausgelöst durch Beben. Ähnlich ist es entlang der chilenischen Pazifikküste, wo sich übrigens in Mai 1960 das bisher stärkste je gemessene Erdbeben mit etwa 9,5 auf der Richter-Skala ereignet hat. Entlang der ganzen Küste sieht man dort alte Strand- und Brandungsterrassen, die infolge von seismischer Aktivität aus dem Wasser gehoben wurden und die Landschaft prägen.


Inaktive Störungsfläche in Erdmantelgestein. Schwarze Fläche durch Magnesium-Silikat (Serpentin) beschichtet (südliche Alpen). Die Pfeile zeigen ältere -Risse, die mit Störungen assoziiert waren
Foto: Handy

fundiert: Zurück zu ihrer paläoseismologischen Arbeit. Warum gehen Sie in die Alpen oder Pyrenäen, um aktive Störungssysteme wie die San Andreas Störung zu verstehen?

Handy: Weil die Alpen und Pyrenäen beide große Störungssysteme besitzen, die zwar nicht mehr aktiv sind, jedoch durch die schnelle Hebung und tiefgreifende Erosion in diesen Gebirgsketten an der Erdoberfläche direkt zugänglich sind. Und es gibt verblüffende Ähnlichkeiten zwischen gewissen Abschnitten der San Andreas Störung und den großen Störungssystemen in den Alpen und Pyrenäen: Wir blicken in diesen Gebieten also in eine Paleotiefe von zehn bis 25 Kilometer und sehen somit, wie die San Andreas Störung ganz unten aussieht. Wir haben etwa gelernt, dass der Versatz entlang von großen Störungszonen an deren Enden in der Tiefe nicht einfach verschwindet, sondern durch eine Vielzahl von Gesteinsfalten und Brüchen aufgenommen wird. Diese Feststellung – basierend auf unsere jüngsten Arbeiten im Gelände – ist wiederum wichtig für die Berechnung des Spannungszustandes in der Tiefe.


Fossiles Erdbeben in einem Erdmantelgestein, ursprünglich in 45 Kilometern Tiefe (Alpen)
Foto: Handy

fundiert: Das heißt, es gab auch in den Alpen schwere Erdbeben?

Handy: Ja, früher bildeten sich die Alpen entlang einer aktiven Plattengrenze und ihre Entwicklung wurde sicherlich von schweren Beben begleitet. Passiert ist dies allerdings vor zehn bis 60 Millionen Jahren. Die Alpen erheben sich immer noch und werden weiter von Seis-mizität begleitet, allerdings nicht so häufig wie früher, weil eben die Geschwindigkeit, mit der sich im Alpenraum heute die europäischen und afrikanischen Platten nähern, viel geringer ist als noch vor zehn Millionen Jahren. Heutzutage gibt es andere Gebiete, die von Beben häufiger heimgesucht werden, etwa im oberen Rheingraben. Basel ist beispielsweise 1356 von einem heftigen Erdbeben stark beschädigt worden, was man anhand der Architektur in der Stadt sehen kann: Viele mittelalterliche Häuser wurden im Feuer nach dem Beben zerstört, das Münster stürzte teilweise ein und besitzt heute einen romanischen Kern unter dem später wieder aufgebauten gotischen Oberbau. Das große Beben ist gerade mal 650 Jahre her, geologisch gesehen eine winzige Zeitspanne.

fundiert: Erdbeben sind also auch heute noch in Europa möglich?

Handy: Jederzeit, vor allem im mediterranen Raum, wo es aktive Plattengrenzen gibt, etwa vor den Küsten Südspaniens, Kalabriens und Kretas. Aber auch in Deutschland bebt es gelegentlich, im Rheinland oder vor nicht allzu langer Zeit auch wieder im Schwarzwald. Meistens sind dies kleinere Ereignisse, gerade so spürbar, als ob ein Lastwagen an ihrem Haus vorbeifährt. Die Bebenstärke damals in Basel hatte eine geschätzte Magnitude zwischen 5 und 6.

fundiert: Wie gut müssen Prognosen sein, bis sie benutzt werden können?

Handy: Mindestens so gut, dass man einer Behörde sagen kann, dass sie drei Tage Zeit hat, um eine Millionenstadt vor einem Erdbeben mit der Magnitude 8 oder mehr zu evakuieren. Ich bezweifle jedoch, dass Erdbebenprognosen je so gut sein werden wie gegenwärtige Wetterprognosen, aus dem einfachen Grund, weil die Erdstruktur in der Tiefe sehr komplex ist und wir große Störungssysteme aus nächster Nähe nicht beobachten können. Erdbeben entstehen ja in der Tiefe und ihr Ablauf ist somit für direktes Monitoring unzugänglich. Immerhin können Geowissenschafter durch verbesserte Modelle das Erdbebenrisiko und die potentiellen Schäden an der Erdoberfläche besser einschätzen. Sie können bei der Formulierung von verbesserten Bauvorschriften der Behörde mit Rat zur Seite stehen.

fundiert: Kann man erdbebensicher bauen und machen hohe Gebäude in seismisch aktiven Gegenden überhaupt Sinn?

Handy: Die Frage nach dem Sinn kann ich nicht beantworten. Als Geowissenschaftler kann ich aber zwei Gegenfragen stellen: Mit welcher Wahrscheinlichkeit will man leben, dass hohe Gebäude stark beschädigt oder zerstört werden, und wieviel will man bezahlen, damit wenig oder eventuell gar nichts passiert, wenn es bebt. Die meisten unserer Gebäude, also Gebäuden in seismisch wenig aktiven Gegenden, sind so gebaut, dass sie seitliche Beschleunigungen von bis zu etwa einem oder zwei Zehntel der Erdbeschleunigung aushalten können. In einem seismisch aktiven Gebiet genügt das aber nicht, wenn seismische Oberflächenwellen eine größere laterale Beschleunigung verursachen. Dann treten natürlich Schäden auf.

fundiert: Wie kann man das verhindern?

Handy: Eine Möglichkeit ist, elastische Baumaterialen zu benutzen, Materialien, die diese Schwingungen aushalten können, die sich verbiegen, ohne zu brechen. Das machen beispielsweise Kulturen im Pazifischen Raum, die Japaner oder Neuseeländer mit ihren traditionellen Bauweisen mit Holz. Aber aus Holz kann man keine Wolkenkratzer bauen. Eigentlich sind viele Hochhäuser heutzutage elastischer gebaut, als man vielleicht vermutet, weil sie starke Windböen aushalten müssen. In Taiwan gibt es einen Hochhaus, Taipei 101, ausgestattet mit einem tonnenschweren, riesigen Pendel an der Spitze des Gebäudes, um die Schwingungen, die durch Erdbeben eintreten, zu dämpfen. Man muss sich aber bewusst sein, dass für jedes Zehntel g, also Erdbeschleunigung, das man an Baufestigkeit gewinnt, die Kosten nicht-linear nach oben schellen. Denkbar ist es, ein Haus zu bauen, das 1 g lateraler Beschleunigung aushält, aber das wäre sehr teuer und sicherlich auch sehr unansehnlich. Es geht immer um einen Kompromiss, bei dem Sie berechnen müssen, wie oft ein Erdbeben mit welcher Magnitude und welcher lateralen Beschleunigung auftritt. Seismologen können eventuell künftig sagen, wann ein Beben kommt, wie stark es sein wird, aber verhindern werden sie es nie können. Und absolute Sicherheit ist schlicht eine Illusion.

fundiert: Haben globale Veränderungen wie der Klimawandel Einfluss auf die Tektonik?

Handy: Wenn Sie mit dem Begriff „Klimawandel“ durch Menschen verursachte Veränderungen des Klimas meinen, dann ist die Antwort nein. Dazu gibt es keine Hinweise; und dafür ist auch die Zeitspanne, in der die Menschen in der Lage sind, das Klima im globalen Ausmaß zu beeinflussen – etwa seit dem Beginn des industriellen Zeitalters – viel zu kurz. Klima wirkt auf die Tektonik hauptsächlich über die Verwitterung und Verlagerung von Gesteinsmassen an der Erdoberfläche, und diese Koppelung zwischen Klima und Massenverlagerung ist viel zu träge, um innerhalb von nur 100 bis 1.000 Jahren eine globale Änderungen in der Tektonik herbeizurufen. Wenn Sie aber den langfristigen Klimawandel ansprechen, etwa infolge glazialer Zyklen, dann kann dies durchaus die Tektonik beeinflussen, zumindest lokal.


Durch Reibungshitze entstandenes Glas als Zeuge eines fossilen Erdbebens in einem Erdkrustengestein, ursprünglich in 12 Kilometern Tiefe (Pyrenäen)
Foto: Handy

fundiert: Wie funkioniert das?

Handy: Klima beeinflusst Tektonik hauptsächlich über die Erosion der Erdoberfläche und die damit verbundene Änderung im Auflast. Steht das darunter liegende Gestein unter einer gerichteten Spannung, die nahezu der Bruchfestigkeit des Gesteins entspricht, dann können sogar kleine Änderungen im Auflast zur Bruchbildung führen. Übrigens ist die Fragen nach der Wechselwirkung zwischen Klima und Tektonik sehr aktuell und wurde gerade in einer Dahlem Konferenz im letzten Januar heiß diskutiert (siehe Infokasten Dahlemkonferenzen). Dass Tektonik das globale Klima beeinflussen kann, ist längst akzeptiert. Beispiele dafür gibt es viele: der Aufstieg von Gebirgen in der Tertiärzeit, welche Luftströmungen beeinträchtigen. Oder Vulkanismus an tektonischen Plattenrändern, der den Staubgehalt der Atmosphäre erhöht und zur globalen Abkühlung führen kann. Interessant ist aber andersrum die Frage, ob und wie Erosion die Aktivität von tektonischen Störungen beeinflusst. Dieser Einfluss ist noch nicht wirklich geklärt, obwohl man Gebiete kennt, in denen die Niederschlagsmenge mit der Erdbebenverteilung korreliert, zum Beispiel in Teilen der südlichen Anden, wo wir bis vor kurzem einen Sonderforschungsbereich hatten.

fundiert: Hat die Beziehung zwischen Störungsaktivität und Klima auch Auswirkungen auf Menschen?

Handy: Sicherlich, und nicht nur wegen den klimatischer Effekten von Tektonik. Auch unser Lebensraum auf der Erde wird durch aktive Tektonik mitbestimmt. Bedenken Sie Folgendes: Ist es ein Zufall, dass der Aufstieg der Hominoiden vor etwa fünf Millionen Jahren in Afrika, gerade im Bereich des ostafrikanischen Grabens geschah? Ein Kollege von mir – auch Teilnehmer an unserer Dahlem Konferenz – hat vorgeschlagen, dass die kleingegliederte, bewässerte Grabenlandschaft, die seit etwa 30 Millionen Jahren auf aktive Störungen und Vulkanismus zurückzuführen ist, die rasche Entwicklung der Hominoiden gefördert hat. Aus Baumbewohnern wurden zweibeinige Jäger mit raffinierten Überlebens- und Jagdstrategien. Auch die Ausbreitung des Homo in der übrigen Welt seit etwa 1,8 Millionen Jahren spielte sich eventuell entlang von aktiven Plattengrenzen ab, weil die Topographie an diesen Grenzen den optimalen Lebensraum für Menschen geboten hat. Einfach gesagt: Ohne aktive Plattentektonik, insbesondere aktive Störungen, gäbe es uns Menschen als solches nicht!

fundiert: Hat sich der Umgang der Menschen mit Erdbeben im Laufe seiner Existenz verändert?

Handy: In der europäischen Kultur ganz sicherlich. Früher war für Menschen die Natur teilweise furchterregend und ich denke, dass das zum Teil noch heute so ist. Nehmen Sie die Schlagzeilen der Boulevardpresse nach dem Seebeben und dem Tsunami von Sumatra: „Natur läuft Amok“, „Natur als Terrorist“. Solche Sätze appellieren an eine urinstinktive Reaktion des Menschen auf unerklärliche Naturphänomene. Was unbekannt ist, ist im wahrsten Sinne des Wortes ungeheuerlich und wird verteufelt. Das ist aber nicht nur bei Erdbeben so, sondern auch bei Gewittern oder Orkanen. Unser Verstand macht nicht immer alles mit – Aufklärungsversuche in unserer Geschichte hin oder her! Bildung spielt in diesem Fall eine wichtige Rolle.


Mikroskopische Aufnahme eines fossilen Erdbebens in etwa 12 Kilometern Tiefe. Das dunklere Material (links) besteht aus zertrümmertem Gestein und Glas (Pseudotachylit, Pfeil), während das helle Material (recht unten) das daneben liegende Gestein ist. Die Abbildung ist vergrößert und entspricht 3,4 Millimetern Höhe in der Wirklichkeit
Foto: Handy

fundiert: Wann wurden Erdbeben zum ersten Mal gemessen?

Handy: Meines Wissens nach hatten die Chinesen die ersten, wenn auch relativ primitiven Seismographen: Große, mit Pendeln ausgestatteten Vasen, mit denen man Erdschwingungen messen konnte. Sie hatten also schon ein differenzierteres Verhältnis zu Naturereignissen, auch wenn Beben beispielsweise in der Han-Dinastie, etwa 78 Jahren nach Christus, als Vorboten von Regierungswechseln gedeutet wurden. Man hat diese Ereignisse zwar nicht im physikalischen Sinn verstanden, aber man konnte sie immerhin schon messen.

fundiert: Was macht Ihnen an Ihrer Arbeit am meisten Spaß?

Handy: Ich denke, die Vielfalt der Arbeit – von der freien Natur bis ins Labor und zurück – macht mir am meisten Spaß. Aber auch die anregende Zusammenarbeit mit anderen Spezialisten, zum Teil außerhalb der Geowissenschaften. Und wenn ich sehe, dass wir bei der Entwicklung von Vorhersagen eventuell helfen können, dann ist das für mich ein zusätzlicher Anreiz. Es verleiht der Forschung einen unmittelbaren gesellschaftlichen Sinn.

fundiert: Wir danken Ihnen für das Gespräch.

Das Interview führten Bernd Wannenmacher und Oliver Trenkamp.


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