FU Berlin

Foto: Christian Springer - Auf einem evangelischen Friedhof in Beirut sind 17 deutsche Soldaten begraben. Fast alle starben mehrere Wochen nach dem Ende der Kämpfe, allein neun kurz vor und nach Weihnachten, auf dem Höhepunkt der Grippepandemie in der Region. Waren sie Grippeopfer?

 

„Seuchen und Krieg im Jahr der Gnade“

Die Spanische Grippe 1918/19 in Arabien und Syrien

Dr. Guido Steinberg

Die Spanische Grippe von 1918/19 forderte weltweit bis zu 40 Millionen Todesopfer. Dennoch ist sie heute fast überall vergessen. Der Erste Weltkrieg und die Pandemie bildeten damals den vorläufigen Höhepunkt einer ersten Welle der Globalisierung, die durch die Revolutionen im Transportwesen im 19. Jahrhundert ausgelöst worden war und allen Arten von Mikroorganismen erst die weltweite Verbreitung ermöglichte.

Gerade heute – im Verlauf der zweiten Globalisierung – können ähnliche Pandemien jederzeit wieder ausbrechen; kann AIDS zu einem Vorboten noch verheerenderer Seuchen werden. Dennoch ist die Erinnerung an die Grippe von 1918/19 in der Welt fast erloschen. Eine Ausnahme bildet Saudi-Arabien, wo ihr Andenken als eines der einschneidenden Ereignisse des vergangenen Jahrhunderts bis heute lebendig ist. In den Regionen des fruchtbaren Halbmonds jedoch, die unter den direkten Einwirkungen des Ersten Weltkrieges zu leiden hatten, ist das Gedächtnis der Pandemie fast vollständig erloschen. War es der Krieg, der die Erinnerung an die Seuche überdeckte?

Eine Untersuchung, wie Menschen damals die Seuche bewältigten, kann den Blick auf unsere eigene Geschichte schärfen und bietet Ansätze zu einer vergleichenden Sozial- und Kulturgeschichte der Seuchen über Zivilisationsgrenzen hinweg. „Im Jahre 1337 trat eine große Krankheit auf, die alle Teile der Erde heimsuchte, gleich ob Beduinen oder Städter. An ihr gingen ungezählte Völker zugrunde, bis dass in den Moscheen nur noch Einzelne beteten“. Diese Worte des Geschichtsschreibers Abdarrahman al-Bassam vergegenwärtigen uns bis heute den Schrecken, den die unbekannte Epidemie 1918/19 in Arabien hervorrief. Viele andere damalige Texte zeigen uns, dass es sich hier um ein besonders einschneidendes Ereignis der saudi-arabischen Geschichte handelte. So heißt es bei Abdallah al-Bassam, einem mit Abdarrahman verwandten Chronisten: „Im Jahr 1337 trat im Najd eine verheerende Epidemie auf, die die Städter und auch die Beduinen heimsuchte. Es starben so viele Menschen, dass nur Gott allein sie zählen konnte.“

Auch wenn bis heute vielen Saudis nicht klar ist, dass es sich bei dieser Epidemie um eine besonders gefährliche Variante des Grippevirus handelte, sind die Ereignisse des Jahres 1337 Hijra (=1918/19) bis heute Gesprächsthema. Fast jeder weiß, dass im „Jahr der Gnade“ (sanat ar-rahma), wie es im Volksmund heißt, eine fürchterliche Epidemie Arabien heimsuchte, die ebenso schnell verschwand, wie sie gekommen war. Im saudi-arabischen Nordosten sprechen die Bewohner auch vom „Jahr der Hitze“ (sanat as-sekhne). Offenbar spielen sie hiermit auf das hohe Fieber an, das als eines der hervorstechendsten Symptome der Grippe galt. In ihren Erzählungen erwähnen Zeitgenossen immer wieder, dass vor allem junge Männer und Wöchnerinnen an den Folgen der Krankheit starben. Alte Frauen berichten von Träumen um Schwangerschaft und Geburt; Männer hingegen erzählen von Fieberphantasien, in denen häufig bewaffnete Reiter auftreten: „Jemand berichtete mir von einem Mann, der erkrankte, dann aber wieder gesundete. Er erzählte: ‘Ich habe einen Reiter gesehen, der eine Lanze in der Hand hielt und mich angriff. Er wollte mein Herz durchbohren, verfehlte es aber und traf mich an der linken Seite meiner Brust.’“ Einige alte Männer erzählen, dass unter den meisten Familien des Nordostens zumindest ein Mitglied nicht betroffen war. Möglicherweise hatte eine Frühjahrswelle der Grippe auch Arabien heimgesucht und einige Personen immunisiert.


Institut für Islamwissenschaften: In den Steppen Zentralarabiens starben die Kamele, da niemand während der Pandemie in der Lage war, sie mit Wasser zu versorgen. (Szene im Wadi Rima östlich von Buraida, um 1918)

Im Herzen Arabiens jedoch, in der Oase Unaiza, scheinen ganze Sippen ausgerottet worden zu sein. So heißt es bei Abdarrahman al-Bassam: „Für einige Kamele wurde kein Futter mehr geerntet und keiner ließ sie auf die Felder und Weiden, damit sie sich selbst mit Futter versorgten.“ Ein Geschichtsschreiber aus der Nachbarstadt Buraida berichtet: „Wegen der Seuche verwaisten Moscheen und viele Häuser. Das Vieh in der Steppe wurde vernachlässigt und es fand sich keiner, der es hütete und keiner, der ihm Wasser gab.“
Auch wenn die Erinnerung lebendig blieb, scheint das Interesse an der Epidemie in Saudi-Arabien in den vergangenen Jahren gestiegen zu sein, möglicherweise aufgrund der Erkenntnis, dass angeblich „westliche“ Krankheiten wie AIDS nicht ferngehalten werden können. Vor allem seit dem Auftauchen von Krankheiten wie der hämorrhagischen Fieber Ebola, Lassa-Fieber und Marburg-Krankheit scheint den Menschen klar zu werden, dass verheerende Epidemien nicht der Vergangenheit angehören. Schon die Spanische Grippe konnte nur global auftreten, weil in einem Zeitalter der „ersten Globalisierung“ Eisenbahnen und Dampfschiffe den Verkehr von Waren und Personen revolutionierten und so für die weltweite Verbreitung von Viren sorgten. Ebenso drohen die genannten Krankheiten sich heute weltweit zu verbreiten, da im Verlauf der „zweiten Globalisierung“ der weltweite Transport von Menschen und Gütern zu einem Massenphänomen wurde.


Institut für Islamwissenschaften: Die Burg der Stadt Buraida in der zentralarabischen Provinz Qasim um 1918. Hier kreuzten sich die wichtigsten Handelswege der Halbinsel.

Erst kürzlich musste auch die saudi-arabische Regierung dies erfahren, als im September 2000 die Rift-Valley-Krankheit ausbrach, ein aus Ostafrika stammendes hämorrhagisches Fieber. Offensichtlich durch Reisende von dort eingeschleppt, hatten die saudischen Behörden größte Mühe, die Epidemie unter Kontrolle zu halten. Während die offiziellen Zahlen bei wenigen hundert Todesopfern liegen, behaupten unabhängige Beobachter, dass weit mehr Menschen gestorben seien.
Trotz ihres Namens brach die Spanische Grippe nicht in Spanien, sondern wahrscheinlich in Truppencamps im Mittleren Westen der USA aus. Zusammen mit Soldaten, die 1918 zu Hunderttausenden nach Frankreich verlegt wurden, kam der Virus nach Europa, von wo er sich weltweit ausbreitete. Schon im Frühjahr 1918 waren die USA von einer Frühlingswelle erfasst worden, die aber noch keine ungewöhnlich hohe Zahl von Opfern gefordert hatte. Erst im August scheint der Virus mutiert zu sein, höchstwahrscheinlich in Brest/Frankreich, wo die amerikanische Marine ihren größten Hafen für Truppentransporte unterhielt, möglicherweise aber auch in Boston oder Freetown, wo der mutierte Virus fast gleichzeitig auftrat. Mehrere Charakteristika unterschieden ihn von herkömmlichen Grippeviren: Vor allem war die Todesrate unter den Grippeopfern der zweiten Welle weitaus höher als bei normalen Grippeepidemien. 1918 bis 1920 starben nach bisherigen Schätzungen mindestens 20 Millionen Menschen. Jüngere Autoren sprechen von bis zu 40 Millionen Toten, wobei diese Zahl eher korrekt zu sein scheint. Allein in Indien starben bis zu 20 Millionen Menschen, in Deutschland zwischen 250.000 und 300.000, in den USA 550.000. Für den Vorderen Orient (Türkei, Iran und die heutigen arabischen Staaten ohne Nordafrika) liegen nur sehr grobe Schätzungen vor, die sich zwischen 215.000 und 430.000 Todesopfern bewegen.


Foto Christian Springer: Die Gedenktafel für die deutschen Soldaten am Eingang des evangelischen Friedhofs in Beirut. Heute ein fast verlassener Ort der Ruhe direkt an der grünen Linie des libanesischen Bürgerkrieges.

Mit Schrecken erregender Geschwindigkeit verbreitete sich die Epidemie im Herbst 1918 über die ganze Welt. Während die deutsche Oberste Heeresleitung zunächst noch gehofft hatte, die Seuche werde nur den Feind dezimieren, starben ab September die ersten deutschen Soldaten, und anschließend erfasste die Grippe die Heimat. Das westliche Mittelmeer erreichte sie ebenfalls im September, hatte Ende des Monats Ägypten und Syrien fest im Griff und erreichte im Oktober das Innere der Arabischen Halbinsel.
In Arabien hielt sich die Grippe für drei Monate. Da Riyadh ohne jegliche medizinische Versorgung war, ließ Ibn Saud, der damalige Herrscher, einen amerikanischen Arzt aus Bahrain rufen. Am 18. Januar 1919 schrieb der ebenso hilf- wie fassungslose Paul Harrison aus Riyadh: “The whole town was sick, so much that the bodies were carried out on donkeys and camels, two to a donkey and [illegible] to a camel.“ Während seines Aufenthalts in der Wüstenstadt starben jeden Tag an die hundert Personen, bei einer Bevölkerung von kaum mehr als 15.000 eine gewaltige Zahl. Infolge dieses Aderlasses blieb die Stadt für Wochen wie gelähmt: „Die Märkte waren wie leergefegt und die meisten Zugtiere starben.“ Wie auf der ganzen Welt blieben traditionelle und moderne Medizin hilflos. Trotz der großen Fortschritte, die die Medizin während des 19. Jahrhunderts – vor allem in der Bakteriologie – gefeiert hatte, war die Existenz von Viren noch unbekannt, Gegenmittel gab es nicht. In Riyadh starben zahlreiche Angehörige der Herrscherfamilie und des städtischen Bürgertums. Junge, an sich abwehrstarke Männer im Alter von 20 bis 40 Jahren liefen die größte Gefahr, vom Virus dahingerafft zu werden, insbesondere, wenn sie auf engem Raum zusammen lebten: Anderswo waren dies 1918 vor allem Soldaten, in Zentralarabien Schüler und Studenten in den Moscheeschulen. Ihr Tod stellte eine soziale Katastrophe dar, besonders weil ein großer Mangel an Lehrern und Richtern herrschte. Wie Harry Philby, ein britischer Reisender, schrieb, sollen insgesamt 25.000 Bewohner der Städte und „unzählige“ Beduinen gestorben sein.


Foto Christian Springer: Rajak, neben Damaskus der wichtigste osmanische Truppenumschlagplatz auf dem nahöstlichen Kriegsschauplatz. Mit der Eisenbahn verbreitete sich auch der Grippevirus in der gesamten Region. Auch hier liegen deutsche Soldaten begraben.

Tatsächlich scheinen die nomadisierenden Landbewohner von der Grippe härter getroffen worden zu sein als die Städter. Unter ihren Nachfahren ist die Erinnerung der Epidemie besonders lebendig geblieben und Geschichten kursieren von ganzen Landstrichen, die entvölkert wurden. Auch in anderen Weltgegenden traf die Grippe die ländliche Bevölkerung besonders hart. Epidemiologen erklären dieses Phänomen damit, dass Stadtbevölkerungen aufgrund des Zusammenlebens großer Menschen- und Parasitenmengen häufiger von Krankheitserregern heimgesucht werden, die dann endemisch werden und bewirken, dass die Städter eher eine Immunität gegen ansteckende Krankheiten entwickeln. Deshalb starben 1918/19 so viele Indianer in Nordamerika, Bauern im Iran und Beduinen in Arabien.

Auch in Großsyrien, das heißt dem Gebiet der heutigen Staaten Syrien, Libanon, Israel und Jordanien, tötete der Virus Zehntausende. Merkwürdigerweise schweigen sich die syrischen Geschichtsschreiber, Biographen und Fachhistoriker zu diesem Thema jedoch aus. Bei der Lektüre der Quellen scheint es fast so, als ob die Spanische Grippe in Syrien überhaupt nie gewütet hätte. Anstatt dieses Thema aufzugreifen, sprechen die meisten Autoren von der Hungersnot der Kriegsjahre, die 1915 mit einer Dürreperiode begonnen hatte. Tatsächlich brachen Epidemien, Hunger und Trockenheit sehr selten einzeln über die Bewohner der Region ein. Vielmehr folgten – in Syrien wie in Innerarabien – auf einsetzende Trockenheit oft Hungersnöte, die die Bevölkerung schwächten und Krankheiten das Feld bereiteten. In den Jahren 1915 bis 1919 kann man einen ähnlichen Zyklus beobachten: Seit 1915 herrschte eine katastrophale Trockenheit. Da britische und französische Schiffe die Mittelmeerhäfen blockierten und auch die Versorgung über das Rote Meer und den Persischen Golf verhinderten, die osmanische Verwaltung aber fast alle Lebensmittelvorräte requirierte und Spekulanten das übrige Getreide horteten, setzte eine fürchterliche Hungersnot ein. Zusätzlich starben Menschen infolge der Kriegshandlungen und an Krankheiten wie Typhus, Fleckfieber, Ruhr, Diphtherie und Cholera. Insgesamt sollen etwa 500.000 Syrer zwischen 1914 und 1919 gestorben sein. Von Grippe ist in keiner der syrischen Quellen die Rede.


al-Nahar, Beirut: Cemal Pascha war osmanischer Militärgouverneur von Syrien bis 1918. Für die arabischen Nationalisten ist er bis heute der Hauptverantwortliche für Hunger, Not und Seuchen im Syrien und Libanon der letzten Kriegsjahre.

Einig ist sich die Mehrzahl der Autoren jedoch, dass die Hungersnot die Katastrophe der Kriegsjahre war. Gestritten wurde und wird lediglich über die Verantwortung für die Krise. Wie so oft verlangte die Nachwelt einen Bösewicht, an dessen Person man die Debatte festmachen konnte: Hier war dies Cemal Pascha, Gouverneur von Syrien und Kommandeur der hier stationierten IV. osmanischen Armee. Nationalistische Autoren konzentrieren sich auf seine Rolle und die der osmanischen Führung, die den Hunger angeblich gezielt gegen die arabische Bevölkerung Syriens und des Libanons einsetzten. In ihren Erzählungen sind arabische Nationalisten die Helden, Märtyrer im Kampf gegen die osmanische Herrschaft. Pro-osmanische Autoren hingegen erwähnen die Hungersnot meist nur am Rande. Sie sprechen lieber über wichtige politische und militärische Ereignisse dieser Zeit, die Arabische Revolte oder die Pläne für eine Nachkriegsordnung. Wenn sie die Hungersnot dennoch erwähnen, so wird meist die alliierte Blockadepolitik für das große Sterben verantwortlich gemacht. Immer jedoch steht die Debatte über Cemal Pascha im Vordergrund.

Vergleicht man den zentralarabischen mit dem syrischen Fall, so fällt ein wichtiger Unterschied ins Auge: Syrien war direkt vom Krieg betroffen, während Zentralarabien verschont wurde. Syrische Wehrpflichtige dienten in den osmanischen Armeen, Nahrungsmittel und Vieh wurden requiriert und Seuchen unter den Truppen griffen sofort auf die ortsansässige Bevölkerung über. Dem nicht genug, tobten hier seit 1917 auch Kämpfe, die bis zum Waffenstillstand von Mudros am 30. Oktober 1918 fortdauerten. Deshalb ist es möglich, dass der Krieg die Erinnerung an die Seuche überdeckte. Auch in Deutschland scheint dies der Fall gewesen zu sein; 80 Jahre lang blieb das Thema dem Spezialisten vorbehalten. Bis heute ist das Wissen um die Tatsache, dass die Grippe innerhalb einiger Monate mehr Menschen dahinraffte als der Weltkrieg in vier Jahren, in der Öffentlichkeit nicht weit verbreitet. In den USA dagegen machten eingehende Studien in den 1990er Jahren deutlich, dass viele Zeitgenossen eine lebhafte Erinnerung an die Schrecken der Seuchenmonate bewahrt haben. So wie in Arabien zeigt sich im Vergleich zwischen Deutschland und den USA eine Diskrepanz in der Wahrnehmung der Seuche – zwischen dem Land, das direkt, und demjenigen, das indirekt vom Krieg betroffen war.

Der syrische Fall entsprach der Norm der „globalen Amnesie“ nach der Katastrophe. Die Gründe hierfür sind vielfältig: Menschen vergessen diejenigen Epidemien schneller, die nur einmal und nur kurz auftauchen, als die immer wiederkehrenden. Dies scheint mir der wichtigste Unterschied zwischen Grippe und Pest zu sein. Im Vorderen Orient war die Grippe schon 1890-92 ausgebrochen und auch nach 1919 kam es zu mehreren Grippeepidemien. Dennoch blieb der tödliche Virus von 1918/19 bis heute eine Ausnahme. Deshalb halten die meisten Menschen Grippe eher für ein Ärgernis als eine Seuche. Dies könnte einer der Gründe für die fehlende Erinnerung der Pandemie sein. Außerdem verschwand die Grippe von 1918/19 ebenso schnell, wie sie gekommen war. Die Kurzlebigkeit der Plage half sicher dabei, der menschlichen Neigung, unerträgliche Erinnerungen zu unterdrücken, nachzugeben.


Institut für Islamwissenschaften: Riyadh um 1918: Die Stadt verlor eine große Zahl ihrer Einwohner.

Es gibt jedoch auch Gründe für das Vergessen, die spezifisch den Vorderen Orient betreffen: 1918/19 wurde die Region immer noch von zahlreichen Krankheiten heimgesucht, die zwischenzeitlich in Europa an Bedeutung verloren hatten. Regelmäßig auftretende Pockenepidemien töteten Kinder in ganz Arabien. Typhus und Fleckfieber waren – besonders in Kriegszeiten – verbreitet und auch Cholera trat bis zum Ersten Weltkrieg häufig auf. Vor allem in Verbindung mit Versorgungskrisen scheinen arabische Chronisten die verschiedenen Krankheiten kaum einer Erwähnung wert befunden zu haben. Außerdem war medizinisches Wissen in der Region selten. Es ist fraglich, ob den Ärzten in der Region (wenn es sie gab) eine Unterscheidung zwischen Typhus, Fleckfieber, Ruhr und Cholera in allen Fällen möglich war, wenn diese Krankheiten gleichzeitig grassierten. Im Übrigen standen auch die Ärzte in Europa und den USA der Grippe hilflos gegenüber.

Dennoch gibt das häufigere Auftreten von Seuchen keine befriedigende Erklärung für die unterschiedliche Intensität der Erinnerung in Syrien und Arabien. Nun könnte man meinen, dass die Grippe Innerarabien ganz einfach härter traf als den Norden. Glaubt man der Schilderung Abdarrahman al-Bassams und berücksichtigt, dass abgelegene Gegenden oft besonders stark betroffen waren, könnte dies möglich sein. Dennoch: Vergegenwärtigt man sich die riesigen Truppen- und Bevölkerungsbewegungen in der Region in den letzten Monaten des Jahres 1918, so scheint es ausgeschlossen, dass die Grippe in Syrien in deutlich abgeschwächter Form auftrat. Sie hatte sich ja nur wegen der immensen weltweiten Truppenbewegungen ausbreiten können. Gerade im immer noch umkämpften Syrien bestanden hervorragende Verbreitungsmöglichkeiten für den Virus.

Schließlich hat Erinnerung immer auch einen Nutzwert. In Saudi-Arabien herrscht in weiten Kreisen bis heute die Auffassung, Seuchen seien von Gott herabgesandt, um Menschen für ihre Sünden zu bestrafen. Vor allem religiöse Kreise verbreiteten diese Ansicht bei jedem Auftreten von Cholera, Pocken oder anderen epidemischen Krankheiten, neuerdings auch bei AIDS. Sie sahen und sehen hierin eine Möglichkeit, die Menschen zu einem gottgefälligen Leben anzuleiten. So heißt es in der Chronik eines Gelehrten: „Ein frommer Mann aus Midhnib im Qasim erzählte uns, dass er zu Beginn dieser Pest einen Traum hatte, in dem er sich außerhalb der Stadt wiederfand. Dort sah er zwei bewaffnete Männer auf weißen Pferden. Es ergriff ihn eine entsetzliche Furcht, die ihn so sehr überwältigte, dass er nicht fliehen konnte. Sie holten ihn ein, grüßten und beruhigten ihn, indem sie sagten, dass sie ihm nichts antun würden: ‘Wir haben es nicht auf Dich abgesehen. Wir und der, außer dem es keinen Gott gibt, wollen die Einwohner dieses Dorfes bestrafen, weil sie ihre Sünden nicht bereuen. Deshalb werden wir sie so bestrafen, wie Er die Leute von Sodom und Gomorrha bestraft hat.’“ Im Gegensatz dazu beherrschten nationalistische Autoren die öffentliche Debatte in Syrien. Sie identifizierten entweder die Osmanen oder die späteren Mandatarmächte Frankreich und Großbritannien als Feinde der arabischen Nation und hatten deshalb ein lebhaftes Interesse daran, ihnen die Schuld an der Misere der Kriegsjahre – die in der individuellen Erinnerung bis heute nachwirkt - zuzuschreiben. Dies war nur möglich, indem sie die Verantwortung beider für die Hungersnot betonten. Mikroorganismen hingegen eignen sich nicht als Sündenböcke in ideologisch geprägten Debatten.


Literatur

Afkhami, Amir Arsalan: Compromised Constitutions: The Iranian Experience with the 1918-19 Influenza Pandemic (upcoming in: Bulletin of the History of Medicine)

Crosby, Alfred W.: America’s Forgotten Pandemic: The Influenza of 1918, Cambridge (u.a.)2 1989

Hartesveldt, Fred R. van (ed.): The 1918-1919 Pandemic of Influenza. The Urban Impact on the Western World, Lewiston (u.a.) 1992

Iezzoni, Lynette: Influenza 1918. The Worst Epidemic in American History, New York 1999

Mills, I.D.: The 1918-1919 Influenza Pandemic-the Indian Experience, in: The Indian Economic and Social History Review 23 (1986), S.1-40

Patterson, K. David/Gerald F. Pyle: The Geography and Mortality of the 1918 Influenza Pandemic, in: Bulletin of the History of Medicine 65 (1991), S.4-21
Ranger, Terence/Paul Slack (Hrsg.): Epidemics and Ideas. Essays on the Historical Perception of Pestilence, Cambridge 1992

Steinberg, Guido: Religion und Staat in Saudi-Arabien. Eine Sozialgeschichte der wahhabitischen Gelehrten, 1902-1953, Würzburg 2002 (in Vorb.)