FU Berlin

Bild: AKG Berlin

 

Seuchen,Plagen, Infektionen

Vom unausrottbaren Übel

Prof. Dr. Johanna Bleker und Prof. Dr. Marina Stöffler-Meilicke

Der Begriff der Epidemie, der Pest oder der Seuche ist historisch nicht identisch mit der modernen Auffassung von Seuchen als Infektionskrankheiten. Der altertümliche umgangssprachliche Begriff der Seuche vermittelt mehr als die Verhandlung eines medizinischen Tatbestandes. Er besitzt eine emotionale Qualität, beschwört Bilder von Schrecken und Gefahr, von Massenelend und Tod. Der Begriff der Seuche ist aber nicht nur dramatischer als der moderne Begriff der Infektionskrankheit, er ist auch weiter, denn er enthält auch ältere Krankheitsvorstellungen. Er kam im 18. Jahrhundert in Gebrauch und ersetzte damals den Begriff der „Pest“, wobei Pest oder Pestilenz bis dahin nicht als die Bezeichnung einer definierten Krankheit verstanden wurde, sondern als Oberbegriff für massenhaftes Erkranken und Sterben diente. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wird das Wort Seuche in Lexika und Lehrbüchern als „gemeingefährliche Krankheit“ definiert. Erst etwa um 1900, zum Beispiel in der Neufassung des Reichsseuchengesetzes von 1905, wird Seuche begrifflich gleichgesetzt mit Infektionskrankheit.

Wenn wir von Seuchen im Sinne von Infektionskrankheiten sprechen, so umfasst der Begriff heute sowohl Epidemien als auch Endemien. Der ältere Seuchenbegriff dagegen berücksichtigt die endemischen, d.h. immer vorhandenen Krankheiten kaum, sondern beschreibt mehr oder weniger plötzlich auftretende Massenerkrankungen. Der Begriff der Seuche ist nicht von der Ursache her definiert, sondern durch die Intensität und Plötzlichkeit des Auftretens. Seuchen im alten Sinn sind dramatische Ereignisse. Das Sterben der Säuglinge an infektiösen Brechdurchfällen oder die Schwindsucht der armen Leute dagegen waren Alltagsprobleme. Sie wurden nicht als Seuchen begriffen, denn sie waren ja immer da. So bezeichnete der Seuchenbegriff der vorbakteriologischen Ära vor allem die Epidemien. Auch heute sind die beiden Begriffe nicht identisch: Auch ein banaler Schnupfen ist eine Infektionskrankheit – aber würden wir hier von einer Seuche sprechen?

Die Erkenntnis, dass Massenerkrankungen durch die Übertragung winziger Lebewesen verbreitet werden, ist wenig mehr als 100 Jahre alt. 1876 hatte Robert Koch am Beispiel des Milzbrandbazillus zeigen können, dass eine Infektionskrankheit nur ausbrechen kann, wenn der für sie spezifische Krankheitserreger vorhanden ist. Das war die Geburtsstunde der Bakteriologie.
Innerhalb weniger Jahre gelang es, die bakteriellen Erreger vieler wichtiger Infektionskrankheiten zu beschreiben. Koch selber entdeckte 1882 den Erreger der Tuberkulose (Mycobacterium tuberculosis) sowie ein Jahr später den Erreger der Cholera (Vibrio cholerae). Sein Schüler Friedrich Löffler beschrieb 1884 den Erreger der Diphterie (Corynebacterium diphteriae), Kitasato 1889 den Erreger des Tetanus (Clostridium tetani) und Alexander Yersin 1894 den Erreger der Pest (Yersinia pestis), um nur einige wichtige Beispiele zu nennen. Wenig später gelang es, die ersten „ultravisiblen“, nicht-bakteriellen Krankheitserreger, nämlich Viren, zu isolieren, wie z.B. den Erreger der Maul- und Klauenseuche (Löffler und Frosch 1898) oder den Ereger des Gelbfiebers (Walter Reed 1900). Die Entdeckungsgeschichte mikrobieller Krankheitserreger und insbesondere der Viren ist bis heute nicht abgeschlossen. Allein in den letzten zehn Jahren wurden zahlreiche, bis dato unbekannte Krankheitserreger beschrieben, und es mehren sich die Hinweise, dass es einen ursächlichen Zusammenhang gibt zwischen bestimmten Infektionserregern und der Entstehung von Krebs.


Robert Koch, Begründer der Bakteriologie

Das neue Wissen um das Wesen der Infektionskrankheiten führte zu tief greifenden Veränderungen im medizinischen Denken und Handeln. Bis dahin waren es immer gerade die Seuchen gewesen, an denen die Grenzen der Medizin und die Hilflosigkeit der Ärzte am deutlichsten zu Tage traten. Nun war das Feld, auf dem die Medizin ihre tiefsten Niederlagen erlebt hatte, zum Schauplatz ihrer neuen Macht geworden. An die Stelle der ehemals unfassbaren Seuchengefahr war ein klar erkennbarer Gegner getreten. Die Mikrobe war als Feind des Menschen erkannt. Jetzt ging es nur noch darum, sie zu vernichten.
Die Geschichte der Bakteriologie liest sich wie eine Schlachtengeschichte. Strategien wurden entwickelt, Kampagnen organisiert und Waffen geschmiedet, um den heimtückischen Gegner zu schlagen. Männer kämpften gegen Mikroben. Eine Siegesnachricht jagte die nächste und wurde als Zeichen nationaler Überlegenheit gefeiert. Die machtvollen Waffen waren zunächst Hygienemaßnahmen und Impfungen. Mit ihrer Hilfe gelang der Sieg über die infektionsbedingte Säuglings- und Kindersterblichkeit, über Wundfieber und Krankenhausinfektionen. Mit Entwicklung der Serumtherapie gegen Diphterie und schließlich mit der Entdeckung der Sulfonamide und des Penicillins in den 1930er und 1940er Jahren kam zur Vorbeugung die Therapie.

1962 verkündete der australische Virologe und Nobelpreisträger (1960) Frank MacFarlane Burnet: „Die Beherrschung der Infektionskrankheiten stellt den überhaupt größten Sieg dar, den der Mensch je über seine Umwelt zu seinem eigenen Nutzen errungen hat. Dieser Erfolg ist... ein prinzipiell vollständiger“. Mit dieser Feststellung drückte Burnet das Credo seiner Generation aus, denn kein zuvor gesunder Mensch müsse heute noch an einer Infektionskrankheit sterben, wenn er nur rechtzeitig medizinische Hilfe erreiche. Das Seuchenproblem sei somit ein Problem der Vergangenheit.
Für die Bevölkerung der westlichen Welt entsprach diese Aussage der erlebten Realität. Die Furcht vor Seuchen war weitgehend verschwunden. Man sah darin nur noch ein Problem der Dritten Welt, ein Problem fehlender Zivilisation nach westlichem Muster. Mit dem Einsatz westlichen Wissens und westlicher Technologie würden diese Krankheiten auch dort bald verschwunden sein. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) erklärte die weltweite Ausrottung von Pocken und Malaria zu ihrer vordringlichsten Aufgabe und meldete am 9. Dezember 1979 den ersten Sieg. In einem offiziellen Festakt wurden die Pocken von der WHO für tot erklärt.


An Cholera gestorbenes Mädchen in Sunderland/England im November 1831

1981, zwei Jahre nach der Siegesfeier über den Tod der Pocken, verbreitete sich in der Fachwelt die Information über eine neue Infektionskrankheit, die offenbar durch einen Virus übertragen wurde. Es war die erworbene Immunschwächekrankheit, kurz AIDS. 1985 war klar, dass die neue Krankheit sich zu einer weltweiten Seuche von gewaltigen Ausmaßen entwickeln würde. Noch nie in der Geschichte war die Medizin so gut gerüstet, um den Kampf gegen eine neue Seuche aufzunehmen. Der Erreger ist identifiziert, die Übertragungswege sind aufgeklärt, an Impfstoffen wird gearbeitet, Heilmittel werden erprobt. Dennoch, die neue Seuche breitet sich unaufhaltsam aus.
Nachrichten über das Auftreten einer weiteren, durch das bislang kaum bekannte Ebola-Virus verursachten, tödlichen Seuche in einigen Regionen Afrikas werden nun mit Beunruhigung registriert. Und die Erkenntnis, dass der Verzehr von am „Rinderwahnsinn“ BSE erkrankten Kühen zu Erkrankungen beim Menschen führen kann, löst seit den 1990er Jahren Massenhysterien aus. So sind die Utopien der 1960er und 1970er Jahre zerstoben. Die Sicherheitsgewissheit der westlichen Welt ist ins Wanken geraten. In der Fachwelt ist an die Stelle der Siegeseuphorie ein neues Nachdenken über das Phänomen der Seuchen getreten. Dabei sind eine Reihe von Tatsachen, die an sich nicht neu sind, wieder ins Bewusstsein gehoben worden.

Der Medizin ist es bis heute keineswegs gelungen, alle Aspekte des Seuchengeschehens wissenschaftlich aufzuklären. Gewiss, wir kennen die meisten infektiösen Krankheitserreger und haben ihre oft sehr komplizierten Übertragungswege erforscht. Daraus resultieren die heutigen technischen Möglichkeiten, um die Weiterverbreitung von bekannten Seuchen zu unterbinden. Wir haben den Mechanismus der Immunität weitgehend enträtselt und sind in der Lage, immer neue und bessere Impfstoffe zu entwickeln. Wir verfügen über Medikamente, die wir gezielt gegen die Krankheitserreger einsetzen können. Aber es ist der medizinischen Wissenschaft bis heute nicht gelungen, die Entstehung neuer Seuchen zu verhindern oder die Veränderung des Seuchenpanoramas vorauszusagen.
Die Geschichte zeigt, dass zu verschiedenen Zeiten verschiedene Seuchen vorgeherrscht haben. Pest, Lepra, Pocken, Syphilis, Cholera kamen oder verschwanden ohne erkennbare Regel. Theorien, wie etwa die, dass bei der Entstehung einer neuen Seuche ein bis dahin harmloser Erreger durch spontane Mutation oder Wechsel des Milieus bösartig geworden sein könnte, taugen immer nur für rückblickende Erklärungen. Denn ein Krankheitserreger ist zwar eine notwendige Bedingung für die Entstehung einer Seuche, aber nicht deren einzige Ursache. Die in der Medizin übliche Verkürzung des Seuchenproblems und der Seuchengeschichte auf die „biologische Evolution von Seuchenerregergenerationen“ wird der Multikausalität des Phänomens nicht gerecht.


Pestarzt in Marseille, kolorierter Kupferstich und Radierung um 1720/1730

Die neue Viruserkrankung AIDS ist keineswegs die einzige Seuche, die trotz aller Bemühungen der Medizin weltweit zunimmt und Millionen von Menschenleben bedroht. Die Gefahr kommt auch nicht nur von neuen Krankheiten, sondern von altbekannten. Insbesondere sind dies die Malaria und die Tuberkulose. In den ersten zehn Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg war die Tuberkulosesterblichkeit so rapide gesunken, dass man schon fast mit dem Verschwinden der Krankheit rechnete. Doch seit den 1980er Jahren steigen die Erkrankungs- und Sterbezahlen an Tuberkulose erschreckend an, auch in der Bundesrepublik Deutschland. Nach Angaben der WHO sterben z. Zt. weltweit jährlich drei Millionen Menschen an Tuberkulose, und ein Drittel der Weltbevölkerung ist damit infiziert. Ähnliches gilt für die Malaria. Anfang der 1970er Jahre bezeichnete man die Ausrottung der Malariamücke und des durch sie übertragenen Wechselfiebers als ein einfaches technisches Problem. Doch die Malaria verseuchten Gebiete haben seither zugenommen. Noch immer sterben in den tropischen Ländern jährlich zwei Millionen Menschen an Malaria. Die Zahl ist steigend.

Seuchen sind und waren nie ausschließlich eine Sache der Medizin. Nicht allein die Virulenz der Erreger bedingt die Intensität und Größe einer Epidemie. Es müssen auch Bedingungen da sein, unter denen sich der Erreger ausbreiten kann. Es ist seit langem bekannt, dass Krieg, Flüchtlingselend, Hunger und Verzweiflung zu diesen Bedingungen gehören. Außerdem können Lebensgewohnheiten, Bildungsstand und Regierungsform, Religion und Brauchtum das Seuchengeschehen beeinflussen. Der Berliner Pathologe Rudolf Virchow prangerte 1848 den Mangel an Demokratie und Bildung in Europa als Ursache von Cholera und Typhus an. „Epidemien“, schrieb er „gleichen großen Warnungstafeln, an denen der Staatsmann in großem Stil lesen kann, dass in dem Entwicklungsgang seines Volkes eine Störung eingetreten ist, welche selbst eine sorglose Politik nicht länger übersehen darf.“


Karikatur auf die von Edward Jenner 1799 eingeführte Impfung mit Kuhpockengift. Radierung, koloriert, 1806.

Auch die Seuchenbekämpfung ist und war nie nur eine Frage der medizinischen Erkenntnis. Jeder Epidemiologe weiß, dass ohne ökonomisch abgesicherte Infrastruktur, ohne politischen Willen und ohne die Mitarbeit der Bevölkerung keine erfolgreiche Durchsetzung medizinischer und seuchenprophylaktischer Maßnahmen möglich ist. Weit über den Zuständigkeitsbereich der Medizin hinaus gehen die Folgen von Seuchen und diese sind auch nicht nur biologischer Natur. Gerne wird von der „weltgeschichtlichen Bedeutung“ der Seuchen gesprochen, die Reiche vergehen und Kulturen zerfallen ließen. Dies gilt zum Beispiel für die Pest der Spätantike (6. Jhdt. n. Chr.), die für den Untergang des Römischen Reiches verantwortlich gemacht wird. Die durch die Konquistadoren nach Mittel- und Südamerika eingeschleppten Masern und Pocken wüteten so verheerend unter der eingeborenen Bevölkerung, dass man von einem „bakteriologischen Völkermord“ an den Inkas und Azteken gesprochen hat. Allein während der Epidemie des Jahres 1576 sollen dort zwei Millionen Menschen an den Pocken zugrunde gegangen sein. Sklaven aus Afrika wurden als widerstandsfähige Arbeitskräfte importiert. Die indianische Urbevölkerung in der Karibik und in den Küstengebieten war bis 1700 weitgehend ausgestorben.
Aber auch wo die historischen Folgen nicht so offenkundig sind, gilt, dass Seuchen über das Leiden der Erkrankten hinaus immer auch eine öffentliche Angelegenheit sind. Sie verändern das ökonomische Gleichgewicht. Sie beeinflussen soziale Gewohnheiten und kulturelle Normen. Sie verändern die psychische Verfassung der Menschen. Sie fordern gesellschaftliche Reaktionen heraus, seien sie planvoll und rational oder irrational und ungewollt.
Seuchen sind folglich auch immer soziale Ereignisse. Sie bringen gesellschaftliche Konflikte, Werte und Vorurteile ans Tageslicht – sei es bei der Suche nach Schuldigen für den Ausbruch der Krankheit, sei es bei der Auswahl, Akzeptanz oder Ablehnung von Bekämpfungsmaßnahmen, sei es bei der Erwartung, dass nur bestimmte Gruppen – mehr oder weniger verdientermaßen – der Krankheit zum Opfer fallen werden. Gerade die Tatsache, dass auch bei großen Epidemien bestimmte Orte und Menschen von der Krankheit verschont bleiben, nährt die Hoffnung, dass es die anderen treffen wird. Auch wenn heute die Erkenntnisse der modernen Medizin ein wesentliches Element des sozialen Deutungsrahmens bilden, so wird das Wissen doch auffallend selektiv genutzt. Das offenbart auch die öffentliche Reaktion auf AIDS. Trotz aller Aufklärungskampagnen ist für das normale deutsche Liebespaar AIDS noch immer eine Krankheit, die ausschließlich die anderen treffen wird: die Homosexuellen, die Süchtigen, die Amoralischen und die Menschen der Dritten Welt. Und dass sich dort, am anderen Ende der Erde, eine Katastrophe von historischem Ausmaß vollzieht, wird hier, wo die Seuche das Alltagsleben der Mehrheit scheinbar nicht mehr bedroht, vollständig ignoriert.


Zitierte und weiterführende Literatur

Burnet, Franc McFarlane: Naturgeschichte der Infektionskrankheiten des Menschen. Frankfurt a.M. 1971 (engl. 1962).

Hahn, Helmut, Falke, Dietrich, Kaufmann, Stefan H.E., und Ullmann, Uwe: Medizinische Mikrobiologie und Infektiologie. (Springer-Verlag), Berlin, Heidelberg, New York 1999

Hannaway, Caroline (Hrsg.): AIDS in the Public Debate. (IOS Press) Amsterdam, Oxford, Tokyo, Washington DC 1995

Mandell, Gerald L., Bennett, John. E. und Dolin, Raphael: Principles and Practice of Infectious Diseases. (Churchil Livingstone) New York, Edinburgh, London, Melbourne, Tokyo 2000

Rosenberg, Charles E.: Explaining Epidemics and Other Studies in the History of Medicine. Cambridge, New York, Oakleigh 1992, S. 292-304.

Ruffié, Jaques und Sournia, Jean Charles: Die Seuchen in der Geschichte der Menschheit. (Klett Cotta) Stuttgart 1987 (und dtv-taschenbuch Nr. 11509, München 1992).

Vasold, Manfred: Pest, Not und Schwere Plagen, Seuchen und Epidemien vom Mittelalter bis heute. (Verlag C.H.Beck), München 1991.

Virchow, Rudolf: Die Epidemien von 1848. (Arch. f. pathologische Anatomie und Physiologie und für Klinische Medizin 3, [1849]). In: Gesammelte Abhandlungen auf dem Gebiete der öffentlichen Medicin und der Seuchenlehre. 2 Bde, Berlin 1879, Bd. 1, S. 117-123