FU Berlin

 

Eine Liebesgeschichte im Schlafzimmer mit dem Lärm der Straße

Im Sommersemester ist der bekannte nicaraguanische Schriftsteller Sergio Ramirez als Gastprofessor an der FU

Dr. jur. Sergio Ramirez

Der ehemalige Vizepräsident von Nicaragua und überzeugte Sozialist erzählt in unserem Interview, wie sehr ihn seine Muttersprache geprägt hat, warum er nach wie vor an den Sozialismus glaubt und weshalb ihn Berlin als Stadt und die Freie Universität als Ort der Wissenschaft und Lehre fasziniert. Seit 1998 besteht am Seminar für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft die Samuel-Fischer-Gastprofessur für Literatur, die von der Freien Universität, dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD), dem S. Fischer Verlag und dem Veranstaltungsforum der Verlagsgruppe Georg von Holtzbrinck getragen wird. Bislang waren Vladimir Sorokin, V. Y. Mudimbe, Kenzaburo Oe – der japanische Nobelpreisträger für Literatur – und Scott Bradfield zu Gast.



fundiert:
Sie haben zwei Jahre als Stipendiat des DAAD in Berlin gelebt. Sprechen Sie ein wenig deutsch?

Ramírez:
Ich habe die Fähigkeit deutsch zu sprechen im Laufe der Jahre verloren. Ich verstehe deutsch, ich lese in deutscher Sprache, ich kann in den Supermarkt einkaufen gehen, wo man nicht viel sprechen muss. Dennoch ist das Deutsche Teil meiner kulturellen Bildung.

fundiert:
Welche Sprachen beherrschen sie?

Ramírez:
Hauptsächlich englisch, ein wenig französisch.

fundiert:
Was bedeutet Ihnen Ihre Muttersprache?

Ramírez:
Eine immense Möglichkeit der Kommunikation. Ich bin sehr froh, eine so lebhafte und aggressive Muttersprache zu haben. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es wäre, wenn ich eine seltene Sprache sprechen würde, eine Sprache, die nur von einem kleinen Personenkreis verstanden würde. Das Spanische verbreitet sich immer weiter, vor allem in den USA. Dort gibt es schon ein amerikanisches Spanisch, ein Spanisch, das mit der Realität der Vereinigten Staaten zu tun hat. Ich habe keine Angst, dass es dem Spanischen so wie dem Lateinischen ergehen wird, das sich am Ende aufgespalten hat in verschiedene Sprachen, als es sich mit anderen Kulturen und anderen Sprachen vermischte. Ich glaube, dass das Spanische als große und vielfältige Sprache überleben wird und eine der großen Sprachen des 21. Jahrhunderts sein wird.

fundiert:
Können Worte für einen Politiker und Revolutionär wie Sie auch Waffen sein?

Ramírez:
Wenn die Worte ihre eigentliche Bedeutung tragen und das ausdrücken, was sie sagen wollen, sind sie eine wirkliche Waffe. Wenn sie aber hohl werden und nur noch rhetorische Werte repräsentieren, wenn Worte, die einmal lebten, wie zerbrochene Glocken klingen, dann verlieren sie ihre Bedeutung, ihren eigentlichen Wert. Das beste Beispiel ist das Wort Revolution, das seinen Sinn, seine wahre Bedeutung verloren hat.

fundiert:
Welchen Unterschied sehen Sie zwischen der Sprache, die der Dichter Ramírez benutzt und der Sprache des Politikers Ramírez? Beinflussen sich die beiden Sprachstile?

Ramírez:
Die Sprache des Schriftstellers basiert auf Erfindung. Je mehr Wörter, Sätze oder Bilder ein Autor erfindet, um so ein besserer Schriftsteller ist er. Im Gegensatz dazu halte ich einen Politiker, der die Worte als Waffen der Erfindung benutzt, für einen Lügner. Es gibt also einen fundamentalen Unterschied zwischen der Sprache des Politikers und der Sprache des Schriftstellers: Ein Politiker, der erfindet, lügt, während ein Schriftsteller, der erfindet, nur der Phantasie treu ist. Die Erfindung ist eine legitime Waffe in der Hand des Schriftstellers, aber nicht in der Hand des Politikers. Der Politiker, der vor dem Volk spricht, muss aufrichtig sein, das heißt er darf keine leeren Worte, keine Worthülsen benutzen. Das heißt jedoch nicht, dass nicht auch jedes politische Projekt voller Phantasie ist, dass nicht jede politische Utopie auf der Vorstellungskraft beruht. In diesem Sinne gibt es auch eine politische Phantasie.

fundiert:
Glauben Sie, dass es Sprachen gibt, die geeigneter für die Literatur sind als andere?

Ramírez:
Nein, das glaube ich nicht. Natürlich ist es so, dass die Sprache, die man am besten kennt, die Muttersprache ist, und dass man daher dazu neigt, diese für die reichste zu halten. So dachte ich immer, dass das Spanische die meisten Substantive hat, und es war eine Überraschung für mich zu erfahren, dass die Sprache mit den meisten Substantiven die englische ist. Sicherlich würde es mir mit dem Deutschen ähnlich ergehen. Die unzähligen Varianten einer Sprache und ihren Gebrauch kann man nur im Mutterleib erlernen.

fundiert:
Beeinflusst die Sprache, in der ein Autor schreibt, den Inhalt dessen, was er schreibt?

Ramírez:
Ja, sehr. Für einen Autor gibt es zwei Universen: das Universum der Phantasie und das Universum des geschriebenen Wortes. Die Phantasie wäre unnütz ohne das geschriebene Wort. Für mich besteht die große Schwierigkeit in der Kunst der Literatur darin, das Problem der Sprache zu lösen. Meist ist das Problem der Phantasie sehr viel leichter zu lösen. Zum Schriftsteller wird man jedoch erst durch das Schreiben, den schwierigeren Teil. Mir zumindest fällt es nicht leicht zu schreiben. Es ist sehr viel schwieriger mit Worten festzuhalten, was man mit einem einfachen Fotoapparat darstellen kann. So kann man einen Baum je nach Tageslicht exakt abbilden. Diesen Baum mit der Sprache exakt zu beschreiben, den Moment festzuhalten, ist sehr viel schwieriger.

fundiert:
In ihren Romanen erscheinen die Protagonisten häufig wie Karikaturen. Interessiert Sie die Psychologie ihrer Personen nicht so sehr?

Ramírez:
Doch. Meiner Meinung nach ist es notwendig, zunächst eine profunde psychologische Ausarbeitung jeder Figur zu machen, ehe man sie auf ironische Weise darstellen kann. Der Gebrauch der Ironie ist für mich ein literarisches Stilmittel. Es dient dazu, Distanz zu meinen Figuren zu gewinnen, zwischen sie und mich einen Streifen Humor zu stellen. Wenn man sich zu sehr mit den Personen identifiziert, ist die Gefahr groß, dass man scheitert.

fundiert:
Zumindest in Ihren letzten Romanen spielt die Politik nur eine untergeordnete Rolle. Wollen und können Sie Politik und Literatur trennen?

Ramírez:
Das ist in Lateinamerika sehr schwierig, weil das öffentliche Leben dort einen großen Einfluss auf das Privatleben hat. Es ist beinahe unmöglich, eine Liebesgeschichte in einem Schlafzimmer zu erzählen, ohne den Lärm der Straße zu berücksichtigen. Der Lärm eines Aufruhrs, einer Revolution dringt immer durch das Fenster ein. Privatsphäre und öffentlicher Raum sind zu eng miteinander verbunden, als dass der Schriftsteller den öffentlichen Raum ignorieren könnte.

fundiert:
In Ihrem Seminar beschäftigen Sie sich hauptsächlich mit jungen Autoren, die nicht mehr der Richtung des „Magischen Realismus“ angehören. Warum? Was fasziniert Sie an diesen Autoren?

Ramírez:
In erster Linie möchte ich die Unterschiede aufzeigen, die zwischen der neueren lateinamerikanischen Literatur und der „klassischen“ Literatur, der Literatur des Booms der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts, bestehen. Alles, was nach dieser Zeit in Lateinamerika geschrieben worden ist, ist verdeckt worden durch den Glanz von Autoren wie García Márquez, Fuentes, Cortázar und anderen, besonders in Europa. Jedoch hat es in Lateinamerika seitdem höchst innovative Tendenzen gegeben, von den Autoren der „Nach-Boom-Generation“, zu der ich mich selbst zähle, bis zu den Autoren des Endes des Jahrhunderts.

fundiert:
Worin sehen Sie die wichtigsten Unterschiede zwischen der Generation der 60er Jahre und der heutigen Schiftsteller-Generation in Lateinamerika?

Ramírez:
Für mich hat die Generation der 60er Jahre vor allem zwei Charakteristika: Erstens, den „realismo mágico“, das – wie mir scheint – immer noch sichtbarste Kennzeichen der lateinamerikanischen Literatur in Europa. Zweitens, der – wie ich ihn nennen würde – ökumenische Anspruch, die Geschichte Lateinamerikas in einem großen Roman zu erzählen. Diese beiden Tendenzen sind durch zahlreiche andere Ausdrucksformen ersetzt worden. Der „realismo mágico“ ist tot. Heute geht es nicht mehr darum, eine große ökumenische, sondern ganz verschiedene Geschichten zu erzählen.

fundiert:
Ihrer Meinung nach hat der „realismo mágico“ also kein Innovationspotential mehr?

Ramírez:
Als literarischer Stil erscheint mir der „realismo mágico“ erschöpft. Meiner Meinung nach handelt es sich beim „realismo mágico“ heute nicht mehr um ein literarisches, sondern um ein kommerzielles Verfahren. Man hat gelernt, die lateinamerikanische Literatur nur noch durch das Prisma des „realismo mágico“ zu lesen. Sie ist aber vielfältiger.

fundiert:
Wie würden Sie Ihren eigenen Stil bezeichnen?

Ramírez:
Als „realistischen Realismus“ (lacht)... Ich verstehe mich als realistischen Schriftsteller in dem Sinne, dass mein Material die Realität ist: meine eigene gegenwärtige Realität, die historische Realität meines Landes, die Vergangenheit. Dies alles ist für mich eine Realität.

fundiert:
Sind Sie noch politisch aktiv?

Ramírez:
Als Bürger bin ich politisch engagiert. Ich habe klare Vorstellungen davon, wie die Gesellschaft sein sollte, ich habe meine persönlichen Utopien bewahrt, ich glaube nicht, dass die Utopien gestorben sind, ganz im Gegenteil. Als Schriftsteller äußere ich Meinungen und ich bin mir bewusst, dass diese Meinungen einen größeren Einfluss haben können, als wenn sie ein gewöhnlicher Bürger äußern würde. Ich glaube jedoch nicht, dass die Literatur dazu dient, politische Meinungen zu äußern.

fundiert:
Können Sie sich vorstellen, in die aktive Politik zurückzukehren?

Ramírez:
Nein. Ich hatte ein sehr intensives politisches Leben, für das ich zehn Jahre meines Schriftsteller-Lebens geopfert habe. Ich habe mich in den vergangenen Jahren dazu gezwungen, meine Rolle als Schriftsteller anzunehmen und ich glaube nicht, dass ich auf diese Rolle noch einmal verzichten werde. Ich habe noch viele literarische Verpflichtungen zu erfüllen.

fundiert:
Die Revolution in Nicaragua ist gescheitert. Was hätte man anders machen müssen?
Ramírez:
Alle Revolutionen haben einen Lebenszyklus. Sie enden, indem sie sich verändern, oder sie enden, indem sie als Machtprojekt scheitern. Sie scheitern als Machtprojekt, aber sie hinterlassen zumindest ein Erbe. Bis zum heutigen Tage sind alle Revolutionen als Machtprojekt gescheitert, von der Französischen Revolution bis zur Russischen Revolution. Aber sie haben der Geschichte der Menschheit ein wichtiges Erbe hinterlassen und das ist es, was mir wichtig erscheint.

fundiert:
Wie hat sich Ihre persönliche Meinung über die Revolution in Nicaragua und ihre eigene Rolle in der Revolution in den vergangenen Jahren verändert?

Ramírez:
Als Machtprojekt ist die Sandinistische Revolution gescheitert. Die Frente Sandinista wird möglicherweise die Macht zurückerlangen – im November finden Wahlen statt – aber nicht mehr als revolutionäre Partei, sondern als Partei des politischen Systems. Das Projekt der Revolution ist für mich beendet.

fundiert:
Verstehen Sie sich noch als Sozialist?

Ramírez:
Ja. Ich bin Sozialist in dem Sinne, dass ich glaube, dass die Gesellschaft sich wandeln muss hin zu einer größeren Gerechtigkeit. Aber innerhalb des unverletzlichen Parameters der Demokratie.

fundiert:
Wie sehen Sie allgemein die Zukunft Lateinamerikas? Wird sich der Einfluss der USA mit der Freihandelszone von Alaska bis Feuerland noch steigern?

Ramírez:
Ich glaube, dass der Einfluss der USA bestimmt wird durch den noch größeren Einfluss der großen Finanzmärkte in der Welt. Diese haben heute ein größeres Gewicht als die Vereinigten Staaten, ein Gewicht sehr schwierig zu definieren mit politischen Begriffen. Sie haben den größten Einfluss in Lateinamerika, konkret durch den Internationalen Währungsfonds.

fundiert:
Sie haben den Transformationsprozess in Ost- und Mitteleuropa nach dem Niedergang des real existierenden Sozialismus beobachtet. Wie beurteilen Sie diesen Prozess?

Ramírez:
Als Scheitern des politischen Systems des Sozialismus, nicht als Scheitern der Idee des Sozialismus. Ich halte die Idee des Sozialismus nach wie vor für gültig. Gescheitert ist das politische Modell, dessen fundamentaler Fehler in der Einschränkung und der Negierung der Demokratie lag, beziehungsweise in der Erstellung eines sehr spezifischen Konzeptes von Demokratie, das die proletarische Demokratie der bürgerlichen und die Volksdemokratie der formalen Demokratie gegenüberstellte. Wenn sich der Sozialismus zu einem einzigen Konzept von Demokratie bekennt, dann wird er auch eine Zukunft haben.

fundiert:
Wie sehen Sie die Entwicklung in Deutschland, auch bezüglich der zunehmenden Gewalt gegen Fremde?

Ramírez:
Berlin erscheint mir ein guter Beobachtungspunkt für die Probleme der Wiedervereinigung, vielleicht der beste. Ich habe diese Stadt geteilt erlebt in den 70er Jahren und bin zurückgekehrt im Sommer 1990, als die Mauer schon Löcher hatte, durch die man schlüpfen konnte. Ich denke, dass Deutschland einen sehr komplexen Prozess der Integration durchläuft, der noch lange nicht abgeschlossen ist. Zwar existiert die Mauer nicht mehr, doch gibt es in Berlin noch unsichtbare Grenzen. Man kann immer noch kulturelle Spannungen feststellen, die für einen Beobachter wie mich, der in Berlin gelebt hat, höchst interessant sind.
Das Problem der Fremdenfeindlichkeit ist kein deutsches, sondern ein europäisches Problem. Europa wird sich noch lange Zeit mit dem Problem der großen Migrationen auseinandersetzen müssen. Je stärker die erste Welt in ökonomischer Hinsicht wird, umso attraktiver wird es für die Armen sowohl Osteuropas als auch Nordafrikas. Die Nordafrikaner werden nach Spanien oder Frankreich kommen wollen ebenso wie die Türken nach Deutschland. Die Lateinamerikaner werden statt nach Europa lieber in die USA gehen. Die erste Welt muss dieses Problem angehen nicht nur, da sie Arbeitskräfte benötigt, sondern um des friedlichen Zusammenlebens willen mit ihren Nachbarn.

fundiert:
Wie hat sich Berlin seit den 70er Jahren verändert?

Ramírez:
Ich komme mir verlorener vor als in den 70er Jahren (lacht). Damals war Berlin zwar eine große Stadt, aber ich konnte mich zurechtfinden. Heute ist die Stadt zu groß für mich und hat viele Neuheiten; Berlin ist eine Stadt, die sich sehr schnell verändert. In den 70er Jahren war Berlin groß, aber provinziell, heute entwickelt sich Berlin zu einer Weltstadt, einer weltoffenen Stadt wie es das Berlin der 20er Jahre war, das Berlin Alfred Döblins, wie er es in „Berlin Alexanderplatz“ schildert. Diese Entwicklung hat viele Risiken, wird aber nicht aufzuhalten sein. Ich bevorzuge jedenfalls immer noch den Westteil der Stadt, wo es provinzieller ist, wo alles nah beieinander ist und die Metrostationen noch aus dem 19. Jahrhundert zu stammen scheinen.

fundiert:
Haben Sie vor, die Erfahrungen Ihres Berlin-Aufenthalts literarisch zu verwerten?

Ramírez:
Ich habe schon Kurzgeschichten über mein Leben in Berlin und über das Leben der Lateinamerikaner in Berlin geschrieben, ein Thema, das mich sehr fasziniert. Natürlich werde ich auch meine jetzigen Erfahrungen verwerten.

fundiert:
Haben Sie Kontakt zu Schriftstellern in Deutschland?

Ramírez:
Zu einigen. Günter Grass habe ich am Tag des Schriftstellers im Haus der Kulturen der Welt getroffen, einige andere Schriftsteller-Freunde wie Hans Christopher Buch auch. Ich bin noch dabei, den Kontakt zu alten Freunden wiederherzustellen.

fundiert:
Wie erleben Sie die Atmosphäre an der Freien Universität?

Ramírez:
Ich genieße mein Seminar sehr. Die Zahl der Teilnehmer ist recht groß, fast 40 Studenten. Die meisten von ihnen sind Deutsche, was mich sehr freut. Das akademische Ambiente hier ist fast perfekt für mich, es ist voller Aktivität, bietet aber auch ausreichend Ruhe, es entspricht nicht der typischen nordamerikanischen Universität, die ich kenne. Im Herbst unterrichte ich an der University of Maryland, wo das Universitätsleben voller Regeln und Formalitäten ist. Hier haben die Studenten größere Freiheiten, sie kommen und gehen, wie es ihnen passt.