FU Berlin
Aus einer hebräischen Übersetzung des vierten Buches des Kanon von Avicenna

 

"Zerreibt man sie mit Essig..."

Hebräische und romanische Medizintexte im Mittelalter

Prof. Dr. Guido Mensching und Prof. Dr. Gerrit Bos

Bei Wissenschaftssprachen denkt man – im Kontext der Internationalisierung – zunächst an Sprachen wie Englisch, in geringerem Maße auch Französisch, Russisch und Deutsch. Das Stichwort Fachterminologie ruft möglicherweise Assoziationen hervor, die mit neuen Phänomenen des Informationszeitalters verbunden sind: etwa die ständig ansteigende Flut neuer „Internet-Wörter“, mit denen wir in fast allen Lebensbereichen in steigendem Maße konfrontiert werden. „Neudeutsche“ Verben wie chatten, forwarden (Partizip Perfekt: geforwardet) oder downloaden (Partizip Perfekt: downgeloadet, nicht gedownloadet!) gehören für einige zur Umgangssprache und rufen bei anderen eher befremdliche Gefühle hervor. Solche Wörter entstehen meist in der Fachsprache der sogenannten IT-Branche und nisten sich dann in der Umgangssprache ein. Im Bereich der Medizin, der uns im Folgenden beschäftigen wird, verhält sich dies größtenteils anders: Der an einer Stirnhöhlenentzündung erkrankte medizinische Laie wird sicher nur selten behaupten, er leide unter Sinusitis, übrigens im Gegenteil zum spanischen Kranken, der letzteres als das geläufige Wort hierfür kennt. Die Endzeit-Visionäre seien übrigens beruhigt: Wörter wie sinusitis, die in der frühen Neuzeit aus dem Lateinischen entnommen wurden, haben die spanische Sprache nicht zerstört. Ebenso wenig ist die englische Sprache an dem erheblichen Anteil an normannisch-französischen Lehnwörtern zugrunde gegangen. Auch hier spielten fachsprachliche Aspekte eine Rolle: die kulinarische Sprache war zu der betreffenden Zeit in England das Französische, und daher heißen zwar noch heute Kühe und Schweine pigs und cows, das daraus hergestellte Fleisch wird aber als beef und pork bezeichnet (vgl. französisch bœuf und porc). Ersteres fand auch Eingang ins Deutsche in dem Wort Beefsteak, aber auch in andere Sprachen in mehr oder weniger veränderter Form (z.B. italienisch bistecca).

Dieses „Sprachenwirrwarr“, in dem Fachterminologien eine bedeutende Rolle spielen, ist somit nicht ein besonderes Kennzeichen des Informationszeitalters. Es gehört zum Phänomen Sprache dazu und war schon immer gegeben. Nach unseren eingangs gemachten, etwas saloppen Reflexionen, begeben wir uns nun in eine entfernte Zeit: das Mittelalter. Hier standen in Europa andere Sprachen im Dienste der Wissenschaften: vornehmlich das Lateinische, aber auch das Arabische und das Hebräische. Fachlich konzentrieren wir uns im Folgenden auf die medizinisch-botanische Fachsprache des mittelalterlichen Hebräisch und verschiedener romanischer Sprachen. Geographisch interessiert uns insbesondere der Sprach- und Kulturraum Südfrankreichs. Die dort ansässige Sprache ist das Okzitanische, das dem Leser vielleicht eher unter den Namen Provenzalisch oder langue d’oc als Sprache der Trobadors bekannt ist. Wissenschafts- und kulturhistorisch sind hier in unserem Zusammenhang die im Mittelalter in ganz Europa berühmten Medizinerschulen von Toulouse und Montpellier zu nennen. In diesem Umfeld entstand auch eine relativ große Anzahl von Texten in hebräischer Sprache. Das zuvor genannte sprachliche Tohuwabohu spiegelt sich in diesen Texten in vielfältiger Weise wider: Zum einen handelt es sich zum Teil um Übersetzungen aus dem Arabischen oder dem Lateinischen, eine Tatsache, die sich auch in der Sprache dieser Texte niederschlägt und die hebräische medizinisch-botanische Terminologie mitprägte. Zum anderen waren die jüdischen Autoren und Übersetzer selbst Sprecher des Okzitanischen, der Sprache, die sie als Ärzte gegenüber ihren Patienten gebrauchten. Auch dies schlägt sich in den Texten deutlich nieder, und so finden wir in ihnen eine bedeutende Anzahl von Termini in der „Sprache der Trobadors“, Okzitanisch. Diese romanischen Wörter sind oft nicht einfach zu entziffern, denn sie wurden nicht in lateinischen Buchstaben, sondern in hebräischer Schrift geschrieben! Hinzu kommt, dass weder die altokzitanische noch die mittelhebräische Terminologie der Medizin hinreichend erforscht sind: Oft erschließt sich der Text erst über den Umweg der besser bekannten Terminologien des Lateinischen und des Arabischen. Unsere Bemühungen, eine größere Anzahl der in romanischen Ländern entstandenen hebräischen Medizintexte zu edieren und die erkennbaren Terminologien zu erschließen, werden seit dem 1. April 2001 im Rahmen eines gemeinsamen Projekts (FU Berlin und Universität zu Köln) von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert.



Aus einer Handschrift der Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz: Hebräische Übersetzung der Aphorismen vom Hippokrates (links), hebräische Übersetzung des Antidotarium des Nicolaus Praepositus (rechts)'


Ein hebräisches Kräuterbuch mit okzitanischen Elementen
In der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz befindet sich ein hebräisches Manuskript, dessen Beginn – hier in deutscher Übersetzung – feierlich und leicht geheimnisvoll anmutet: „So spricht der Verfasser, der Arzt, der den Namen Macer trägt: Ich wollte schon immer über die Mächte der Arzneien und die heilenden Kräuter sprechen. Daher werde ich über einige von ihnen kurz Bericht erstatten, so gut ich dies zu tun vermag.“ Publius Aemilius Macer – so lautete der Name eines römischen Autors, von dem Ovid berichtet und der ein verloren gegangenes Gedicht über Pflanzen verfasst haben soll. Sollte am Ende das verschollene Werk des Macer aus der römischen Antike hier in Form einer hebräischen Übersetzung wieder aufgetaucht sein? Mit solch einer spektakulären Entdeckung können wir leider nicht aufwarten. Immerhin konnte aber die Quelle des hebräischen Textes identifiziert werden: Es handelt sich um eine Version des mittellateinischen Lehrgedichts De virtutibus herbarum, das in zahlreichen Handschriften unter dem Pseudonym Macer Floridus zirkulierte und das zu den bekanntesten Kräuterbüchern (Herbarien) des Hoch- und Spätmittelalters zählte. Der mittellateinische Ausgangstext entstand wohl im 12. Jahrhundert in Frankreich, möglicherweise in einem Gebiet an der Loire, nicht weit also vom Standort der südfranzösischen Medizinerschulen. Sehen wir uns einen Auszug aus der hebräischen Version etwas genauer an (siehe auch Schaukasten auf Seite 42). Hier wird die Wirkung der Pflanze Wermut (Artemisia Absinthium L.) beschrieben:

Zerreibt man sie zusammen mit Essig und reibt seinen Körper damit ein,muss man sich nicht mehr vor Fliegen fürchten, denn sein Geruch verjagt sie.

Die Pflanze sollte ungekocht denen verabreicht werden, die an 'JTRJZ'H leiden. Wird sie mit SPJK' gemischt und mit Essig getrunken, so heilt sie die Leber.

Wenn sie eingenommen wird, entfernt sie das Gift von BWLTN, wenn jemand sie gegessen hat.

Sie schützt gegen das Gift der tödlichen KKD'H und gegen die Bisse giftiger Tiere.

Sie hellt die Augen auf, wenn sie zusammen mit Honig aufgetragen wird.

Sie ist gut für BLBWRS, das sind jene bläulichen Flecken der Kranken.

Wenn sie auf den Dampf gelegt wird ('JSTWB') so öffnet sie verstopfte Ohren (RJSWLBR').

Als Insektenschutzmittel wird der Wermut auch in heutigen Heilpflanzenbüchern noch empfohlen. Die anderen Rezepte seien aber hier nicht unbedingt zur Nachahmung empfohlen, denn die Pflanze enthält ein Nervengift! Allerdings würde die Nachahmung sicher auch schwer fallen, denn einige Wörter dürften hier unverständlich sein. Sie wirken übrigens für den Sprecher des Hebräischen genauso befremdlich wie für den deutschen Leser dieses Artikels. Allerdings folgen auch diese Wörter der hebräischen Schrift, in der Vokale in der Regel nicht geschrieben werden. Dies erschwert nun aber deren Entzifferung. Auch wenn man der Tatsache Rechnung trägt, dass der Buchstabe Waw (W) oft ein o oder u und das Jod (J) ein e oder i repräsentiert, könnten sich aus der Zeichenfolge BLBWRS in der vorletzten Zeile zahlreiche Kombinationen ergeben, wie z.B. bleboras, blibures, bleburs und viele andere. Weiterhin kann der Buchstabe Bet (B) als b oder auch als v ausgesprochen werden, d.h. Lesarten wie blevoras, balivoris, velbores u.v.a. sind theoretisch ebenfalls möglich. Nun wissen wir aber, dass die Übersetzung in Südfrankreich entstanden ist, und hierin liegt auch des Rätsels Lösung. Diese Wörter sind okzitanisch, und mit einem bisschen romanistischen Fingerspitzengefühl kommt man bei blbwrs auf blavuras oder blavores, so heißen nämlich die blauen Flecken auf Okzitanisch. Hierin steckt übrigens unser Wort blau, welches im Okzitanischen genauso lautet, allerdings blava im Femininum, wovon blavura und blavor abgeleitet sind, die somit eigentlich „Blauheit“, „Bläue“ oder ähnliches bedeuten. Genauso ergibt sich für KKD'H das okzitanische Wort cocuda „Schierling“ (Conium maculatum L.), eine noch giftigere Pflanze, und „JSTWB“ ist als estuba zu lesen, das hier wohl eine Art Dampfbad bezeichnet. Das Wort ist etymologisch möglicherweise von lateinisch extuphare – „mit Dämpfen erfüllen“ – herzuleiten, aus griechisch „Dampf“; und vielleicht stammt hierher auch das deutsche Wort Stube, das wahrscheinlich ursprünglich einen heizbaren Baderaum oder den darin befindlichen Ofen bezeichnete. So war auch die okzitanische estuba ein Raum, in dem Kranke zum Schwitzen gebracht wurden. Das Wort hat also in seiner Bedeutung „medizinisches Dampf- oder Schwitzbad“ durchaus fachsprachlichen Charakter. Das gleiche gilt für ‘JTRJZ'H, das wohl itericia zu lesen ist und eine Variante des lateinischen Wortes icteritia darstellt. Ein hiermit verwandtes lateinisches Wort ist in der Form Ikterus in der heutigen medizinischen Fachsprache für die Gelbsucht geläufig.

Wir haben soeben den fachsprachlichen Charakter der okzitanischen Elemente hervorgehoben. Dies ist allerdings nicht ganz so einfach. Die Wissenschaftssprache in unserem Text ist das Hebräische. Das Okzitanische war hingegen die Umgangssprache der jüdischen Übersetzer und Kopisten. Im Falle von itericia, cocuda und blavuras scheinen dem jüdischen Bearbeiter die entsprechenden hebräischen Wörter unbekannt gewesen zu sein. Er benutzte daher die Pflanzenbezeichnungen seiner Alltagssprache. Etwas anders liegt der Fall bei den beiden in der Übersetzung in Klammern hinzugefügten Wörtern. Hier handelt es sich um sogenannte Glossen, d.h. erklärende Hinzufügungen, die auch von einem späteren Kopisten stammen könnten. Die etwas unklare oder sogar fehlerhafte Formulierung „Wenn sie (d.h. die Pflanze) auf den Dampf gelegt wird“ wird hier durch das Stichwort „Dampfbad“ ergänzt; ebenso wird die therapeutische Wirkung des Entstopfens der Ohren mit RJSWLBR' glossiert, was wahrscheinlich resolvera zu lesen ist und auf romanisch bedeutet „er, sie, es wird auflösen“ – gemeint ist offenbar das Ohrenschmalz. Auch hierfür wird wieder die Alltagssprache benutzt. Die Wörter hätten somit eher nicht fachsprachlichen Charakter: Sie scheinen dazu gedient zu haben, die hebräische Fachsprache in der Umgangssprache zu erklären. Allerdings wurde das Okzitanische selbst auch als Wissenschaftssprache benutzt, so dass die genaue Interpretation der Funktion der genannten Elemente nicht ganz einfach ist. Hinzu kommt, dass Wörter wie z.B. itericia im Grunde lateinisch sind. Handelt es sich hier um lateinische Fachtermini im Okzitanischen oder im Hebräischen? Mit derartigen Fragen beschäftigt sich die Fachsprachenforschung, ein Teilgebiet der Sprachwissenschaft, das uns hier nicht weiter interessieren soll. Stattdessen wollen wir unseren Blick anhand von sogenannten Synonymenlisten auf einige Probleme bei der Entschlüsselung des hebräisch-okzitanischen Medizinwortschatzes werfen.



Die Pflanze Wermut in einem mittelalterlichen Herbarium


Mittelalterliche Synonymenlisten
Im Gegensatz zu heute gab es im Mittelalter keine normierten Terminologien. Meistens konkurrierten für einen Begriff mehrere Termini; hinzu kamen die verschiedenen volkssprachlichen Benennungen. Oft gab es zusätzlich zu dem lateinischen Namen, der bei Pflanzenbezeichnungen häufig selbst griechischen Ursprungs war, arabische Termini, die in latinisierter oder romanisierter Form zirkulierten. Auch existierte im Mittelalter keine geregelte Rechtschreibung und in Ermangelung mechanischer Vervielfältigungsverfahren wurden die Texte immer wieder von Hand abgeschrieben. Hierdurch entstanden häufig auch Fehler, die z.T. weiter abgeschrieben wurden; fehlerhafte Varianten konnten so auch in die Fachterminologie übernommen werden.

Um diese terminologische Verwirrung aufzulösen, existierten im Mittelalter sogenannte Synonymenlisten, eine Art Vorläufer der heutigen Wörterbücher. Die Alphita, eine dieser Listen, schreibt etwa für die Pflanze Beifuß (Artemisia vulgaris L.):

Artemisia, i. matricaria, i. mater herbarum

In der in England entstanden Synonyma Bartholomei heißt es hingegen:

Arthemesia Armoyse > idem, muggewede

Armoyse ist ein französischer Name der Pflanze, und muggewede der mittelenglische (heute mugwort). Artemisia, matricaria und mater herbarum sind lateinische Synonyme für dasselbe Kraut. Die Bezeichnung artemisia selbst gehört zu den unzähligen Pflanzennamen, die die Römer aus der griechischen medizinisch-botanischen Fachterminologie übernahmen: [artemis¡ia, dies ist, unschwer erkennbar, aus dem Namen der Göttin Artemis abgeleitet. Mater herbarum heißt „die Mutter der Kräuter“, und von dem lateinischen Wort für Mutter läßt sich seinerseits matricaria ableiten. Auch im Deutschen ist die Bezeichnung Mutterkraut geläufig. Gerade derartige metaphorische Pflanzenbezeichnungen sind in vielen Sprachen häufig anzutreffen, wobei nicht immer genau rekonstruiert werden kann, wer was von wem übernommen hat.

In solchen Synonymenlisten konnte nun der mittelalterliche Arzt oder Apotheker nachschlagen, wenn er in einem Rezept auf ein ihm unbekanntes Wort traf. Allerdings sind gerade diese Listen oft extrem fehlerhaft und anstatt der Klärung zu dienen, stiften sie oft neue Verwirrung. So wurde etwa in einer auf der Iberischen Halbinsel entstandenen Synonymenliste durch eine Verwechselung von e und o das lateinische pes corvinus „Hahnenfuß“ zu pes cervinus „Hirschfuß“. Und es kam noch schlimmer: Ein anderer Kopist interpretierte das lateinische Wort pes „Fuß“ als spanisch pez, was Fisch bedeutet, und gab das Ganze dann als lateinisch piscis cervinus „Hirschfisch“ wieder. Es ist klar, dass derartige Fehler, die oft weitertradiert wurden, für die Gesundheit der mittelalterlichen Bevölkerung nicht gerade förderlich sein konnten.

Solche Synonymenlisten existieren auch in hebräischer Sprache, allerdings hat sich bis heute niemand intensiv mit ihnen beschäftigt. Die Erforschung dieser Texte wird in Berlin und Köln in unserem von der DFG geförderten Projekt erstmalig systematisch in Angriff genommen. Die hebräischen Synonymenlisten sind zum Teil noch schwieriger zu entschlüsseln, was unter anderem wieder an der fehlenden Vokalisierung liegt. Warum wurde etwa in einer dieser Listen (29. Buch des Sefer ha-Schimmusch) die Wasserminze mit einer Lilienart gleichgesetzt? Diese Frage war nicht ganz einfach zu beantworten. Die Lösung fanden wir in dem im hebräischen Text verwendeten Terminus sjsnbr. Setzt man hier Vokale ein, so erhält man zum einen das arabische sausan barri „wilde Lilie“, andererseits aber auch okzitanisch sisinbre „Wasserminze“! Hier sind wir bei dem Phänomen der Homonymie, das heißt, dass ein Wort für mehrere Dinge stehen konnte. So bezeichnete zum Beispiel das hebräische Wort ’ahalim sowohl die Pflanze Aloe, eine zu den Liliengewächsen gehörende (sub)tropische Pflanze, als auch die hierzulande als Amber oder Ambra bekannte fettige Ausscheidung aus dem Darm des Pottwals, die zur Herstellung eines Duftstoffes dient. Beide werden in unserer hebräischen Synonymenliste gleichgesetzt und darüber hinaus mit der okzitanischen Bezeichnung esperma de balena umschrieben – dies ist allerdings ein anderes Produkt der heute bedrohten Tierart: auf deutsch Walrat oder Spermazet, eine aus dem Schädel des Pottwals gewonnene, in der pharmazeutischen und kosmetischen Industrie verwendete weißliche, wachsartige Masse. Um die Verwirrung komplett zu machen, sei hier noch angemerkt, dass ambra auch das lateinische und romanische Wort für Bernstein war (vgl. französisch ambre). So erklärt sich, dass das bereits erwähnte mittellateinische Wörterbuch Alphita (hier in deutscher Übersetzung) schreibt: „Ambra, das ist Spermazet oder Walrat, aber zweifelsohne ist es das Gummi eines Baumes, der am Meer wächst“.



Ein hebräischer Text über Kinderheilkunde in einem Manuskript der Staatsbibliothek zu Berlin-Preußischer Kulturbesitz. Der Text wird an der Universität zu Köln (auch unter Mitarbeit der FU-Projektgruppe) bearbeitet.


Hebräisch-romanische Medizintexte als "philologisches Scrabble"
Trotz allem geben Teile der hebräisch-okzitanischen Medizintexte weiterhin Rätsel auf. Was ist zum Beispiel in unserem Berliner Macer Floridus-Text von der Konsonantenfolge rwk als Bezeichnung des Frosches zu halten? Wir könnten dies ruc lesen, was in dem mit dem Okzitanischen stark verwandten Katalanisch tatsächlich ein Tier bezeichnet, allerdings einen Esel und keinen Frosch! Oder ist rauc gemeint – so imitieren die Katalanen das Quaken des Frosches? Manchmal gleicht der Umgang mit diesen Texten dem Lösen eines Kreuzworträtsels oder dem Entziffern einer geheimen verschlüsselten Botschaft. Wir hoffen, den hebräischen und romanischen Medizintexten des Mittelalters noch so manches Geheimnis zu entlocken. Der ein oder andere Leser mag sich nach dem Sinn des Ganzen fragen. Was gehen uns die alten Medizintexte heute noch an? Für den Philologen ist die Antwort klar: Zur Sprach- und Literaturwissenschaft gehört auch die Erforschung der Geschichte von Sprachen und ihren Texten. Die mittelalterlichen Wissenschaftstexte und die hierin erkennbaren Fachsprachen gehören zu den weniger erforschten Gebieten. Selbstverständlich sind derartige Texte auch für die Geschichte der Medizin relevant, und in der heutigen Zeit, in der Naturheilkunde in verschiedenen Spielarten immer stärker in die Medizin zurückkehrt, versuchen einige Mediziner sogar, mittelalterliche Rezepte auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen und für die Entwicklung moderner Medikamente nutzbar zu machen. Dies muss natürlich auf einer philologisch sauber erarbeiteten Textgrundlage erfolgen. Hierzu werden die von uns erstmals edierten und sprach- und textwissenschaftlich erforschten hebräischen Texte mit der hierin überlieferten altokzitanischen Terminologie einen Beitrag leisten.





Literaturverzeichnis

Bos, G. (1998) „Editing medieval Hebrew medical manuscripts:

R. Barkai, A history of Jewish gynaecological texts in the Middle Ages“, Review essay, Jewish Quarterly Review 89, S. 101-121.

Bos, G. u. Fontaine, R. (1999)
„Medico-philosophical controversies in Nathan b. Jo’el Falaquera Sefer Zori ha-Guf“, Jewish Quarterly Review 90, S.1-34.

Bos, G. u. Mensching, G. (2000)
„Macer Floridus: A Middle Hebrew Fragment with Romance Elements“, Jewish Quarterly Review 91, S. 17-51.

Bos, G. u. Mensching, G. (im Druck)
„Shem Tov Ben Isaac, Glossary of Botanical Terms, nrs. 1-18“, erscheint in Jewish Quarterly Review.

Mensching, G. (1994)
La sinonima delos nonbres delas medeçinas griegos e latynos e arauigos. Estudio y edición crítica, Madrid: Arco-Libros (= Fuentes de la medicina española 4).

Mensching, G. u. Röntgen, K.H. (Hrsg.) (1995):
Studien zu romanischen Fachtexten aus Mittelalter und früher Neuzeit, Hildesheim, Zürich, New York: Olms (= Romanische Texte und Studien 6).



Jüdische Ärzte als Vermittler antiken medizinischen Wissens im Mittelalter

Seit den Anfängen der Medizingeschichte bis heute hatten jüdische Ärzte großen Einfluss auf deren Entwicklung. Ein hoher Prozentsatz der Juden war als Mediziner tätig, da diese Beschäftigung nicht als ein landläufiger Beruf (dessen Ausübung für Juden unter christlicher Herrschaft oft verboten war), sondern in einem engen Verhältnis zur Philosophie und Religion als eine geistliche Berufung gesehen wurde. So waren gerade im Mittelalter viele der jüdischen Ärzte Philosophen und in der Frühen Neuzeit Rabbiner.

Neben dieser Verknüpfung der Ausübung der Philosophie (bzw. des Rabbineramtes) und der Medizin kommt den jüdischen Ärzten in der Diaspora noch eine weitere, für den medizinischen Wissenstransfer zwischen verschiedenen Sprach- und Kulturgemeinschaften zentrale Rolle zu, und zwar die des Übersetzers: Im Frühmittelalter waren gerade die Juden in den babylonischen Zentren von Sura und Pumbedita die Bewahrer der griechischen Medizin im Zeitalter des allgemeinen Niedergangs des Hellenismus, wobei sie diese Heilkunst mit Kenntnissen vorderasiatischer und indischer Traditionen verknüpften. Entlang der Stationen der islamischen Eroberungen bildeten sich Zentren medizinischer Gelehrsamkeit, an denen ebenfalls Juden gerade wegen ihrer Qualifikation zur Übertragung in die arabische Sprache maßgeblich vertreten waren.

Dem christlichen Abendland war der direkte Zugriff auf die antiken medizinischen Quellen des Orients verloren gegangen, als beispielsweise gegen Ende des zwölften Jahrhunderts in den katalanischen und okzitanischen Zentren Perpignan, Montpellier und Toulouse jüdische Gelehrte damit begannen, sowohl die arabischen Übersetzungen der antiken Quellen, als auch die Quellen der arabischen Medizin ins Hebräische und Lateinische zu übersetzen. Dabei hielten auch Wörter und Wendungen aus den noch nicht standardisierten Volkssprachen dieser Region Einzug in die medizinische Fachliteratur.

Es ist kein Zufall, dass gerade jüdischen Ärzten an den südfranzösischen Medizinerschulen eine entscheidende Rolle beim Transfer medizinischen Wissens zukam. Denn nachdem die Dynastie der Almohaden in dem islamischen Teil der Iberischen Halbinsel die Herrschaft übernommen hatte und für das friedliche Zusammenleben dreier Kulturen schwerere Zeiten anbrachen, flohen viele Vertreter der jüdischen Elite nach Südfrankreich. Diese waren zum einen des Arabischen mächtig und zum anderen weiterhin über Handelsbeziehungen und familiäre Bande mit der Iberischen Halbinsel verbunden.

Für diese Übersetzer- und Vermittlerfunktion der jüdischen Gelehrten in Südfrankreich ist die Tibbon-Familie, die ehemals auf der Iberischen Halbinsel ansässig war, ein hervorragendes Beispiel: Von ihren Vertretern wurden die philosophischen und wissenschaftlichen Werke eines der prominentesten spanischen Juden, Moses ben Maimon, vom Arabischen ins Hebräische übertragen. Ein weiteres gutes Beispiel ist Abraham Schem Tov ben Isaak aus dem katalanischen Ort Tortosa, der lange Zeit als Arzt in Marseilles tätig war und gegen Ende des 13. Jahrhunderts den arabischen Kitab al-Tatsrif von Abu al-Qasim al-Zahrawi als Sefer ha-Schimmusch ins Hebräische übersetzte. In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass der Katalane bei seiner Übersetzung eine hebräische Terminologie in die mittelalterliche Medizin einführte, die sich hauptsächlich aus der Spätantike nährt und im 29. Buch eine Synonymenliste aufstellt, in der etwa 700 altromanische Wörter auszumachen sind, deren genaue Bestimmung, Interpretation und Zuordnung in unserem Projekt erstmalig geleistet werden soll.

Frank Savelsberg und Martina Schader
(MitarbeiterInnen im DFG-Projekt Hebräisch-Okzitanische Synonymenlisten)