FU Berlin
Foto: Ausserhofer

  

Sind Sprachstörungen heilbar?

FU-Mediziner erforschen seltene Form der Aphasie

Dr. Ralf Siedenberg

In Deutschland leiden etwa 70.000 Schlaganfallpatienten an einer Aphasie, das heißt einer Sprachstörung. Für die betroffenen Patienten bedeutet die Aphasie oft eine schwere Störung der Kommunikation. Bisher sind Aphasien trotz der Fortschritte moderner Sprachtherapie nur bedingt behandelbar. An der Neurologischen Klinik der Freien Universität wird derzeit gemeinsam mit dem Lehrstuhl für Patholinguistik der Universität Potsdam die sogenannte primär fortschreitende Aphasie näher erforscht, bei der die Patienten langsam fortschreitende Wortfindungs-, Artikulations- und Sprachverständnisstörungen erleiden. Häufig wurde diese Form der Aphasie in der Vergangenheit falsch diagnostiziert.

Als Sprachstörung oder Aphasie bezeichnet man in der Neurologie eine durch eine Hirnschädigung erworbene Störung der Sprache nach bereits abgeschlossenem Spracherwerb. Es können sowohl rezeptive als auch expressive Modalitäten betroffen sein, das heißt Sprechen und Verstehen, Lesen und Schreiben. Die häufigste Ursache einer Sprachstörung im Erwachsenenalter ist ein Schlaganfall, genauer ein Hirninfarkt, also eine lokale Durchblutungsstörung mit anschließendem Untergang von Hirngewebe. In Deutschland gibt es etwa 70.000 Schlaganfallspatienten mit Aphasien. Zusätzlich können aber auch andere Erkrankungen wie zum Beispiel Tumore, Entzündungen und vor allem auch neurodegenerative Erkrankungen zu aphasischen Störungen führen.

Die wissenschaftliche Erforschung der Aphasien begann im 19. Jahrhundert. Im Jahre 1861 beschrieb der französische Arzt Paul Broca erstmalig einen Patienten mit einer erworbenen Sprachstörung aufgrund eines Gehirntumors im linken Stirnlappen. Dieser Patient konnte jahrelang nur noch die Silbe „an“ aussprechen, obwohl er vor seiner Erkrankung mal gesprochen hatte. Sein Sprachverständnis blieb allerdings intakt. Broca nahm daraufhin an, dass die Fähigkeit zur Sprachproduktion im Stirnlappen lokalisiert sei. Das frontale Sprachareal wird deshalb als Broca-Areal bezeichnet, die entsprechende Sprachstörung nennt man Broca-Aphasie. Nachdem Broca acht weitere Patienten mit Sprachstörungen obduziert hatte und regelmäßig pathologische Veränderungen in der linken Gehirnhälfte fand, stellte er die These auf, dass die menschliche Sprachfähigkeit eine Funktion der linken Gehirnhälfte sei. Diese Hypothese hat sich für fast alle Rechtshänder und die Mehrheit der Linkshänder bis heute vielfach bestätigt und war lange Zeit ein wesentliches Argument für die Lokalisierbarkeit von mentalen Funktionen im Gehirn.


Bewegungsbilder für Sprache
Kurze Zeit später beschrieb der deutsche Neurologe Karl Wernicke eine komplementäre Störung. Er hatte Patienten beobachtet, die zwar weiterhin flüssig sprechen konnten, deren Sprachverständnis allerdings schwer gestört war. Die Obduktion ergab später eine Lokalisation der Störung im linken Schläfenlappen und das entsprechende Areal wird heute noch als Wernicke-Areal bezeichnet. Die eigentliche Leistung Wernickes bestand darin, dass er als erster ein neurologisches Modell der menschlichen Sprache und ihrer Störungen entwickelte. Akustische Signale werden von den Ohren zum primären Hörkortex im Temporallappen geleitet. Von dort gelangen sie zum Wernicke-Areal im linken Temporallappen, wo „Klangbilder für Worte“ gespeichert werden und das Sprachverständnis ermöglicht wird.

Vom Wernicke-Areal gibt es eine Verbindung, das sogenannte Bogenbündel, zum motorischen Broca-Areal im linken Frontallappen. Hier werden nach Wernicke die „Bewegungsbilder für Sprache“ gespeichert, die die Sprachproduktion ermöglichen. Die Verbindung zum primär motorischen Kortex im Stirnlappen, und von dort zu der Muskulatur des Sprechapparates bilden die Verbindung zu den ausführenden Organen des Sprach- beziehungsweise Sprechsystems. Wernicke postulierte, dass eine Unterbrechung des Informationflusses im Bogenbündel zu einer Nachsprechaphasie führen würde. Als später tatsächlich eine relativ isolierte Störung des Nachsprechens bei Läsionen des Bogenbündels gefunden wurde, galt dies als eine wichtige Bestätigung seines Modells. Das von Lichtheim vervollständigte neurologisch basierte Sprachmodell und die entsprechende klinische Klassifikation der Aphasien hielt sich gut hundert Jahre. In moderner Terminologie gibt es danach das motorische Broca-Areal, welches Sitz der Sprachproduktion ist, und das mit dem sensorischen Wernicke-Areal, wo das Sprachverständnis lokalisiert ist, durch das Bogenbündel verbunden ist.

Schädigung des Broca-Areals
Eine Schädigung des Broca-Areals führt zur sogenannten motorischen Broca-Aphasie. Die Schädigung des Wernicke-Areals führt zu einer sensorischen Wernicke-Aphasie. Sind beide Areale zerstört, kommt es zu einer vollständigen oder globalen Aphasie. Die Unterbrechung am Bogenbündel führt zu einer Nachsprechaphasie. Das Wernicke-Lichtheim Modell bildet weiterhin die Basis der klinischen Klassifikation von Aphasien. Als wissenschaftliches Erklärungsmodell der menschlichen Sprache und ihrer Störungen ist es allerdings unzureichend und vielfach widerlegt. Bei sorgfältiger Testung zeigt sich, dass sogenannte Broca-Aphasiker in der Regel keine isolierte motorische Sprachstörung haben. Es finden sich nämlich auch deutliche Verständnisstörungen, nicht auf der Wortebene sondern vielmehr auf der Satzebene. Komplexe Sätze mit Passivkonstruktionen und mehreren Satzobjekten werden nicht verstanden. Linguistisch lässt sich diese Aphasieform deswegen besser als Syntaxstörung beschreiben, die sowohl die Sprachproduktion als auch das Verständnis betrifft. Zusätzlich bestehen Störungen in Bereichen der Phonologie und der Morphologie. Ähnlich betrifft die Wernicke-Aphasie nicht nur die sensorische Modalität. Auch die Ausdrucksfähigkeit, beziehungsweise Sprachproduktion dieser Patienten ist schwer gestört, wobei Sprachfluss und Satzkonstruktionen sowie der Gebrauch von Funktionswörtern mit vorwiegend syntaktischer Funktion relativ intakt erscheinen. Linguistisch lässt sich die Wernicke-Aphasie besser als Störung der Semantik erklären, die sowohl das Sprachverständnis als auch die Sprachproduktion betrifft. Viele Patienten mit Broca-Aphasien oder Wernicke-Aphasien haben darüber hinaus eine Lokalisation ihrer Hirnläsion, die nicht dem Broca- oder Wernicke-Areal entspricht.

Sowohl neuropathologische Untersuchungen bei Obduktionen als auch moderne bildgebende Verfahren haben gezeigt, dass es nicht zwei scharf abgegrenzte Sprachzentren gibt. Stattdessen sind an der Sprachverarbeitung und Sprachproduktion viele Hirnareale im Stirn-, Scheitel- und Schläfenlappen beteiligt. Darüber hinaus sind auch subkortikale Areale wie der Thalamus, die Basalganglien und das Kleinhirn an der Sprachverarbeitung beteiligt. Man spricht von sogenannten Neuronalen Netzwerken, um die diffuse Verteilung und vielfache Verbindung der an der Sprachverarbeitung beteiligten Hirnareale zu betonen. Während die sogenannte propositionale Sprache ganz überwiegend in der sprachdominanten linken Hirnhälfte lokalisiert ist, leistet die rechte Hirnhälfte einen wichtigen Beitrag bei der Verarbeitung der Prosodie, das heißt von Sprachrhythmus und Sprachmelodie. Damit leistet die rechte Hirnhälfte einen wichtigen Beitrag für die Unterscheidung von Fragen, Aussagen oder Befehlen, oder auch zum Verständnis von Ironie. Ein besseres Verständnis der Aphasien ist nicht nur von akademischen Interesse. Neue, modellgeleitete Therapieansätze in der Logopädie versprechen bessere Heilungschancen für aphasische Patienten. Initial bestand logopädische Therapie hauptsächlich aus einfachen Sprech- und Verständnisübungen. Es zeigte sich allerdings, dass Übungen wie das Reihensprechen, also zum Beispiel das Aufsagen der Wochentage oder Monate des Jahres, zwar die Sprachfähigkeit in der Therapiesituation verbessern, nicht aber die Kommunikationskompetenz der Patienten im Alltag.



Foto: UNICOM


Erstellen eines Störungsprofils
Unter dem Einfluss moderner kommunikationspsychologischer Theorien wurde dieser pragmatische Aspekt der Sprache in der modernen Logopädie viel stärker berücksichtigt. So können Aphasiker zum Beispiel angeleitet werden, gezielter Kontext-Hinweise in der Kommunikation zu nutzen. Auch die Tatsache, dass die Prosodie, also Sprachmelodie und Sprachrhythmus, teilweise in unbeschädigten rechtscerebralen Arealen verarbeitet werden, kann durch geeignete Strategien genutzt werden. Die Integration von neurolinguistischen Modellen in logopädische Therapiekonzepte bedeutet einen weiteren wichtigen Fortschritt bei der Behandlung von Aphasien. Für die Ebene der Einzelwortverarbeitung ermöglicht zum Beispiel das Logogen-Modell diagnostisch das Erstellen eines Störungsprofils, aus dem ein individuell angepasster Therapieplan abgeleitet werden kann. Dadurch können gezielt spezielle Routen der Sprachverarbeitung trainiert werden, um so das vorhandene Kompensationpotential besser auszuschöpfen. Beispielhaft sei dies anhand von Lesestörungen (Alexien) erläutert, die isoliert oder im Rahmen von Aphasien auftreten. Es wird angenommen, dass es mindestens zwei verschiedene Wege der Informationsverarbeitung für das Lesen gibt, die getrennt voneinander gestört sein können. Beim einzelheitlichen phonologischen Lesen werden die Buchstaben nacheinander dekodiert und gelesen (sogenannte Graphem-Phonem Transformation). Das Wortverständnis ist sekundär, es können auch Buchstabenfolgen, die keine existierenden Wörter darstellen („Pseudowörter“), gelesen werden. Beim ganzheitlichen lexikalischen Lesen hingegen wird der Sinn des Wortes direkt erfasst. Es stellt beim geübten Leser den Regelfall dar. Pseudowörter können aber auf diese Weise nicht gelesen werden. Ist das ganzheitliche Lesen gestört, spricht man von einer semantischen Alexie, bei einer Störung des einzelheitlichen Lesens von einer phonologischen Alexie.

Es gibt darüber hinaus auch Alexien, bei denen die Integration visueller Sprachinformation derartig gestört ist, dass Patienten zwar einzelne Buchstaben erkennen können, jedoch größte Schwierigkeiten haben, daraus das Wort abzuleiten. Weil diese Störung der Schrifterkennung ohne wesentliche Störungen anderer visueller Informationsverarbeitung vorliegen kann, vermutet man in der linken Hirnrinde ein spezifisches visuelles Modul, welches Buchstabeninformation zur Wortform integriert und beim Lesen eine zentrale Rolle spielt (z.B. Siedenberg et al. 1998). Patienten mit einer solchen Alexie können interessanterweise schreiben, aber anschließend ihre eigenen Aufzeichnungen nicht oder nur sehr langsam lesen. In Abhängigkeit von der erhaltenen Restkompetenz können für Patienten mit unterschiedlichen Alexien individuelle Lesestrategien trainiert werden, um so die Lesefähigkeit gezielt zu verbessern. Dabei kann therapeutisch sowohl die Regeneration, das heißt die Funktionswiederkehr der geschädigten Hirnareale, als auch die Reorganisation, das heißt die Funktionsübernahme durch nicht geschädigte Hirnareale, gefördert werden.

Wortfindungsstörungen bei Alzheimer Patienten
Neben den akut beginnenden Aphasien nach Schlaganfällen, die teilweise eine recht gute Prognose haben, gibt es auch chronisch progressive Aphasien bei neurodegenerativen Erkrankungen. So können aphasische Symptome wie zum Beispiel Wortfindungsstörungen das Bild einer Alzheimer Erkrankung prägen, häufig allerdings assoziiert mit anderen kognitiven Defiziten wie Gedächtnisstörungen oder Orientierungsstörungen. Darüber hinaus gibt es die seltenen und sehr viel weniger bekannten primär progressiven Aphasien. Hierbei handelt es sich um Sprachstörungen, die sich isoliert über viele Jahre langsam forschreitend verschlechtern. Die Ursache dieser Erkrankungen ist unbekannt. Im Rahmen einer Kooperation mit Prof. Dr. De Bleser, Lehrstuhl für Patholinguistik/kognitive Neurolinguistik der Universität Potsdam, untersuchen wir zur Zeit solche Patienten sowohl neurolinguistisch als auch mit modernen bildgebenden Verfahren um so ein besseres Verständnis der Erkrankung bzw. ihrer zugrunde liegenden gestörten Mechanismen zu erreichen (Siedenberg et al. in press). Oft wird die primär progressive Aphasie über Jahre nicht diagnostiziert. Bei begleitenden Störungen der Artikulation wird die Erkrankung häufig als psychogen klassifiziert, was für Patienten und Angehörige gleichermaßen eine schwere Belastung darstellt.

Bei anderen Patienten wird fälschlicherweise eine Alzheimer Erkrankung diagnostiziert, was eine Fehleinschätzung ihrer kognitiven Kompetenz zur Folge hat und mit einer viel schlechteren Prognose einhergeht. Sollten sich unsere vorläufigen Ergebnisse bestätigen, so konnten wir nun erstmals im deutschen Sprachraum bei dieser Erkrankung die oben beschriebene semantische oder Oberflächenalexie nachweisen.



Foto: UNICOM


Häufige Fehldiagnosen
Aufgrund der im Verhältnis zum Beispiel zur englischen Sprache sehr viel regelmäßigeren Orthographie des Deutschen, sind solche Störungen sehr viel schwerer aufzudecken. Da unregelmäßige Graphem-Phonem-Korrespondenzen kaum vorhanden sind und Patienten mit einer Oberflächendyslexie flüssig lesen war der Nachweis einer Oberflächenalexie im Deutschen bisher nicht möglich. Dies ist ein interessantes Beispiel für den Einfluß von Kultur und Erfahrung auf die Informationsverarbeitung des Gehirns und ihrer Störungen. Ob sich die hirnphysiologischen Korrelate solcher kognitiver Unterschiede auch in funktionell bildgebenden Verfahren nachweisen lassen, ist Gegenstand zukünftiger Untersuchungen.


Viele Erkrankungen können Aphasien verursachen. Für die betroffenen Patienten bedeutet die Aphasie häufig eine schwere Störung der Kommunikation. Aphasien sind bisher trotz der Fortschritte moderner Sprachtherapie nur bedingt behandelbar. Wissenschaftliche Studien aphasischer Patienten tragen sowohl zu einem besseren Verständnis der menschlichen Sprache als auch ihrer Störungen bei. Dies wiederum ist die Grundlage zur Verbesserung der Therapie von Aphasien in der Zukunft.