FU Berlin

Foto: AKG Berlin - Herz-Jesu-Darstellung. Lithographie eines unbekannten Künstlers aus dem 19. Jahrhundert, Kunstverlag Maecenas, Dresden 1903.

 

Metapher und Symbol

Zur Herz-Jesu-Frömmigkeit im Katholizismus

Prof. Dr. Rainer Kampling

Die Herz-Jesu-Frömmigkeit erlebte im restaurativen Frankreich des 18. Jahrhunderts einen wahren Boom: Die in Christus menschgewordene Liebe Gottes schien sich im offenen und blutigen Herzen Christi zu symbolisieren. Das Herz Jesu als menschliches Herz hat dabei eine lange Tradition, die ohne altkirchliche Kenntnis unverständlich wäre. Heute erscheint uns der Kult merkwürdig antiquiert und mischt sich mit einer Spur von Ekel. Und doch begegnen wir Nachwirkungen der Herz-Jesu-Frömmigkeit nicht nur in katholischen Gegenden. Der Theologe Prof. Dr. Rainer Kampling erläutert den Aufstieg und Niedergang des Kults von den Anfängen im 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart.

Am 27. Dezember 1673 kniet die Schwester Magareta Maria Alacoque vom Orden der Heimsuchung des heiligen Franz von Sales vor dem Altar ihrer Klosterkirche in Paray-le-Monial. Die Sechsundzwanzigjährige, die ein Jahr zuvor die ewigen Gelübde abgelegt hatte, die sie mit einem mit eigenem Blut geschriebenen Widmungsschreiben besiegelt, fällt selbst im Kloster durch ihre strenge Lebensweise auf. Sie hat – wie sie in ihrer Autobiographie beschreibt – bereits in ihrer von Krankheit geprägten Jugend visionäre Schauungen erlebt. An diesem Tag erscheint ihr das Herz Jesu auf einem Flammenthron, nach allen Seiten Strahlen sendend, mit der Lanzenwunde. Das Herz ist von einer Dornenkrone umgeben und auf ihm steht das Kreuz.
Mit diesem Tag beginnt in der katholischen Welt die Herz-Jesu-Verehrung. Die Verehrung des heiligen Herzens Jesu gehört für Nichtkatholiken und wohl auch für Katholiken der jüngeren Generation, das heißt für die, die nach dem letzten Konzil, dem Vaticanum II, religiös sozialisiert wurden, zu einer Domäne der katholischen Frömmigkeitspraxis, zu der ein Zugang verwehrt scheint. Allzu Fremdes, vielleicht Bedrohliches, Unästhetisches wird hier für den berührt, der die Praxis und Ikonographie nicht zu entziffern vermag. Dieser Frömmigkeitsform haftet offensichtlich das Antiquierte an in einer Zeit, in der die „Kardiolatrie” längst an anderen Orten denn in Kirchen betrieben wird.

Gleichwohl ist die Bildersprache des Kultes noch so gegenwärtig, dass sich erahnen lässt, welche große Bedeutung er vormals in katholischen Gegenden hatte. Hier ist freilich nicht nur Sacré-Cœur de Montmartre, die als Sühne gedachte Kirche der Katholiken Frankreichs, zu erwähnen, sondern auch an die Zitationen des Bildes vom sichtbar gemachten Herzen Jesu. Da, wo Jesus auf dem Bildtypus des 19. Jahrhunderts sein Herz zeigt, prangt beim Comic-Helden Superman ein flammendes S, das ihn als Retter aus allen Nöten ausweist. In Martin Scorseses Film, The Last Temptation of Christ von 1988, wird das Motiv so drastisch-realistisch umgesetzt, dass sich fromm Wähnende daran Anstoß nehmen konnten. Dabei führt er lediglich die Bildwelt seiner italo-katholischen Herkunft in die Filmsprache ein, die das vertraute Bild seiner Heimseligkeit beraubt. Denn dieser Bildtypus, der sein Herz zeigende Jesus, ist es, der in unzähligen Wohnungen von Katholiken vor nicht allzu langer Zeit seinen Platz hatte. Und es ist dieses Bild, von dem Günter Grass in der Blechtrommel Oskar Matzerath reden läßt: „Er öffnete sich das Gewand über der Brust und zeigte in die Mitte des Brustkastens, aller Natur zum Trotz, ein tomatenrotes, glorifiziertes und stilisiert blutendes Herz, damit die Kirche nach diesem Organ benannt werden konnte [...]. Dieser blühende, immer zum Weinen bereite Kußmund! Dieser die Augenbrauen nachzeichnende männliche Schmerz! Volle, durchblutete Wangen, die gezüchtigt werden sollten.”


Dort, wo Jesus auf dem Bildtypus des 19. Jahrhunderts sein Herz zeigt, prangt beim Comic-Helden Superman ein flammendes S, das ihn als Retter aus allen Nöten ausweist. Superman, dargestellt von Christopher Reeve in der Titelrolle des gleichnamigen Films, Großbritannien 1978, Regie: Richard Donner.

Die ästhetische Sprache des Kultes, die das Objekt der Verehrung, das Herz Jesu, überdeutlich zeigt, führt zu Aversionen gegen das zu Verehrende. Und dennoch gilt, dass die Herz-Jesu-Frömmigkeit nicht nur ein Bestandteil der Mentalitätsgeschichte katholischer Frömmigkeitspraxis ist, sondern zur Ganzheit der Metaphorik und Symbolik des Herzens hinzugehört und sie gleichsam zusammenfassend überhöht. Denn das Herz Jesu ist in der Frömmigkeit auch und immer das menschliche Herz.

Das Herz Jesu als menschliches Herz

Wenn der eigentliche Herz-Jesu-Kult erst in der Neuzeit entsteht, so kann man nicht übersehen, dass die Möglichkeiten und Voraussetzungen seiner Entstehung in älteste Zeiten zurückgehen. Ohne die spezifisch jüdisch-biblische Verstehensweise des Herzens wäre er nicht denkbar gewesen. Denn für die Heilige Schrift Israels, christlich Altes Testament genannt, ist das Herz viel mehr als ein Organ: Es ist das personale Innere eines jeden Menschen. Und diese Bedeutung ist weder in den griechischen noch lateinischen Übersetzungen aufgegeben, obwohl es aufgrund des kulturellen Kontexts durchaus nahe gelegen hätte; sie findet sich im Neuen Testament und in der christlichen Literatur der Antike und des Mittelalters und beeinflusst bis auf den heutigen Tag die Assoziationen und Konnotationen, die sich mit dem Wort ,Herz‘ verbinden.
Näherhin ist der biblische Bedeutungsinhalt von ,Herz‘ dadurch bestimmt, dass das Herz als Lebenszentrum verstanden wird, in dem sich alle religiösen und emotionalen, kognitiven und rationalen Prozesse des Menschen vollziehen. „Behüte dein Herz mit allem Fleiß; denn daraus geht das Leben” (Spr 4,23). Damit ist zunächst nichts über die Qualität ausgesagt, da Gutes und Böses, Dummes und Weises in einem Herzen sein können. Freilich ist es ethisches und vernünftiges Ziel, nur die positiven Elemente zuzulassen, da allein dann ein menschengerechtes Leben im Angesicht Gottes möglich ist. Wenn dieses gelingt, gilt:

„Denn Weisheit wird in dein Herz eingehen, dass du gerne lernst” (Spr 2,10), und „Ein weises Herz redet klug und lehrt wohl” (Spr 16,23). Das Herz ist das Organ des Verstehens, das wiederum das intellektuelle Vermögen des Menschen offenlegt: „Ein verständiger Mann trägt nicht Klugheit zur Schau; aber das Herz der Narren ruft seine Narrheit aus” (Spr 12,23). Weil sich aber nichts, was den Menschen in seinem Menschsein betrifft, ohne das Herz zuträgt, ist es zugleich Ort der Emotionen: „Das Herz kennt sein eigen Leid, und in seine Freude kann sich kein Fremder mengen” (Spr 14,10). Es ist als Innerstes des Menschen untrüglich: „Auch beim Lachen kann das Herz trauern, und nach der Freude kommt Leid” (Spr 14,10). An diesen Beispielen aus dem Buch der Sprichwörter, das Weisheitssprüche verschiedener Herkunft sammelt und in seinem Grundbestand bis in das siebte Jahrhundert v. Chr. zurückreicht, lässt sich unschwer erkennen, dass das Herz als Synonym für den Menschen steht, als pars pro toto, das jedoch alles umfasst. In der religiösen Anthropologie ist das Herz weiterhin Ort der Zuwendung zum anderen Menschen und der Erfahrung der Wirklichkeit Gottes. Dann geschieht eine „Rede zum Herzen” (Gen 34,3; Jes 33,18). Und wie die Zuneigung zum anderen Menschen im Herzen geschieht (vgl. etwa: 2 Sam 15,13; Mal 3,24; 1 Sam 18,1: „Und da er hatte ausgeredet mit Saul, verband sich das Herz Jonathans mit dem Herzen Davids, und Jonathan gewann ihn lieb wie sein eigen Herz”), so ist dort auch der Kern der Gottesliebe (Dtn 4,29). Aber auch die Liebe Gottes zu den Menschen vollzieht sich im Herzen Gottes. Es empfindet Zuneigung und Zorn, Mitleid und Reue über den Zorn, Erbarmen und Schmerz. Gewiss ist diese Redeform anthropomorphistisch, aber damit ist noch nichts über die theologische Intention ausgesagt. Im Rahmen der erinnernden narrativen Theologie wird durch die Rede vom Herzen Gottes seine Selbstmitteilung an Israel als je gegenwärtige Bezeugung seiner Liebe interpretiert. Sie bringt mit aller Deutlichkeit die Wesenheit Gottes zum Ausdruck, nämlich die „Vehemenz seiner Menschenfreundlichkeit”.1 Die alttestamentliche Auffassung vom Herzen und ihre sprachlichen Explikationen sind fast durchgängig metaphorischer Art. Es wird nicht von einem Organ gesprochen, sondern vom Zentrum dessen, was den Menschen ausmacht. Anthropologisch und theologisch ist bedeutsam und traditionsbildend, dass das Herz als Sitz aller Gefühle, eben auch der Liebe und des Hasses, über die Beziehung zu den Mitmenschen und zu Gott bestimmt.

Das Neue Testament folgt den Vorgaben seiner jüdischen Tradition. Dieser Befund ist für Texte, die für hellenistisch sozialisierte Leser geschrieben wurde, immerhin bemerkenswert, da sich die biblische Konzeption maßgeblich von der griechisch-römischen unterschied. Die etwaigen Verständnisschwierigkeiten wurden um der theologischen Bedeutung willen in Kauf genommen, obwohl es für einen nichtjüdischen Leser verwirrend sein konnte zu erfahren, dass das Herz Sitz von Verstand und Gefühl sein sollte. Auf der Ebene der Rezeption war damit der metaphorische Sprachgebrauch festgelegt. Danach meint „Herz den Menschen in seiner Gesamtheit und in seinem Hingeordnetsein auf Gott”.2 Für die spätere Vorstellung vom Herzen Jesu trägt neutestamentlich nur Joh 19,34, aber darin sehr folgenreich, etwas bei: „[...] der Kriegsknechte einer öffnete seine Seite mit einem Speer, und alsbald ging Blut und Wasser heraus.” Ob hier eine antike medizinische Vorstellung zugrunde liegt, nach der sich im Tod die Körperflüssigkeiten trennen, ist angesichts der überdeutlichen symbolischen Bedeutung der Stelle nicht von großem Gewicht.3 Denn dem Verfasser ging es eindeutig um die Relevanz des Todes Jesu, dessen heilschaffende Wirkung mit dem Verweis auf das Wasser der Taufe und das Blut der Erlösung und der Eucharistie vergegenwärtigt wird.4 In der Rezeptionsgeschichte des Textes sollte sich dann eine Weiterschreibung der Symbolik finden.5 Sie war einerseits bestimmt von der ekklesiologischen Deutung, nämlich der Geburt der Kirche aus der Seite Christi, andererseits von der sich darin erweisenden Barmherzigkeit des Gottessohnes. Von einer Entwicklung zu einer Herz-Jesu-Frömmigkeit kann man freilich weder in der Antike noch im Mittelalter sprechen, obgleich uns dort das Herz Jesu in der Passionsfrömmigkeit begegnet.

Das Äußere und das Innere

Bei der ersten Vision der Magareta Maria Alacoque sieht sie nicht nur das Herz Jesu, sondern hat auch noch eine Audition, in der Jesus das Geschaute als Ausdruck seiner Liebe zu den Menschen deutet.6 Die Nonne hat nach eigenen Aussagen noch vier weitere Visionen, in denen das Herz mit verschiedenen Insignien erscheint. Die jeweiligen Auditionen kreisen um das Herz als Ort der Liebe Christi zu den Menschen, die diese Liebe erwidern und Sühne für die Kränkung dieser Liebe leisten sollen. Konkret werden die Verehrung des Herzens Jesu, Einrichtung eines eigenen Feiertags und häufige Feier der Eucharistie genannt, mithin die Etablierung eines neuen Frömmigkeitskults. Ganz klar erkennbar fließen in den Visionen und ihren Deutungen metaphorische, symbolische und reale Elemente zusammen. Die Nonne sieht ein menschliches Herz in der Form, in der es in der Kunst vorgegeben war – wie auch eine von ihr erhalten gebliebene Federzeichnung von 1685 zeigt. Das Herz als Sitz der Liebe wiederum verweist auf religiöse und profane Konnotationen. In ihrer Interpretation ist jedoch das menschliche Herz Jesu Ort der göttlichen Liebe, sodass sich im Herzen die Menschlichkeit und Göttlichkeit Jesu mitteilt. In der Verehrung des Herzens Jesu antwortet der Mensch auf die erfahrene Liebe und gibt sie zurück. Das Herz ist Ort der Kommunikation zwischen Jesus und Mensch.


Blaise Pascal, französischer Theologe und Mathematiker (1623-1662). Farbdruck nach einer Miniatur von Paul Prieur.

Wenn auch gilt, dass die aufkommende und sich verbreitende Herz-Jesu-Verehrung ohne die Visionen der 1920 heiliggesprochenen Nonne unwahrscheinlich gewesen wäre, so ist doch die Entstehung im 17. Jahrhundert kaum zufällig. Denn in diesem Jahrhundert gewinnt das Thema Herz eine zentraler Bedeutung. Schon der Humanist Justus Lipsius (1547 - 1606) hatte das Herz als Zentrum der menschlichen Persönlichkeit und seines Handelns (wieder-) entdeckt.7 1628 veröffentlichte William Harvey (1578 – 1657), der Leibarzt des englischen Königs, seine Schrift „Exercitatio anatomica de motu cordis et sanguinis in animalibus” („Über die Bewegung des Herzens und des Blutes bei Lebewesen”) und darf damit als Entdecker des menschlichen (großen) Blutkreislaufes gelten. Während durch William Harvey das Herz als Organ in seiner Bedeutung erkannt wird, ist es der Theologe und Mathematiker Blaise Pascal (1623-1662), der in seinen Pensées eine Theologie des Herzens im Sinne einer Erkenntnislehre vertritt.8 Dem Herzen kommt die Fähigkeit der vollkommenen Erkenntnis, eben auch der Erkenntnis Gottes, zu. Und desgleichen findet im deutschen Protestantismus durch den Pietismus eine Rückbesinnung auf die religiöse Bedeutungskraft des Herzens statt, die in der Blut-Christi-Lyrik ihren Höhepunkt findet. Die Herz-Jesu-Visionen der Alacoque sind unbedingt im Kontext ihrer Zeit verortet. Sie bilden den emotionalen und praktisch-religiösen Bezugspunkt der Entdeckung des Herzens, wobei der aktive Aspekt dieses Kultes nicht übersehen werden darf: Weil Jesus mit menschlichem Herzen liebt, kann das menschliche Herz wiederlieben und somit in Kommunikation zum Göttlichen treten.

Diese Frömmigkeit bedarf weder einer theologischen Bildung noch einer kirchlichen Weihe; sie befreit aus einer ausschließlich objekthaften Haltung als Heilsempfänger und macht die Glaubenden zum Subjekt einer Praxis aus Erfahrung, die als Sühne verstanden einen eigenen aktiven Beitrag zur Wirklichkeit des Heils leistet.

Die Visionen der Alacoque sind – auch darin gehören sie zur Wiederentdeckung des Herzens im 17. Jahrhundert – eine Antwort auf die Forderung, Glaube und Frömmigkeit hätten sich an der ratio zu orientieren.9 Die Visionärin, der übrigens Zweifel an der Wahrhaftigkeit ihrer Visionen nicht fremd waren und die zunächst in ihrem Konvent als besessen bzw. als verrückt angesehen wurde, und der Gegenstand der Verehrung dokumentieren diesen Wechsel. Magareta Maria Alacoque gilt selbst wohlmeinenden Forschern als „völlige Autodidaktin von geringer Bildung”.10 Ihre Visionen haben sie dennoch zum religiösen Subjekt gemacht. Und der Gegenstand der Verehrung ist trotz seines symbolischen Kontexts das fleischliche, leibliche Herz. In diesem Sinne ist die von der Alacoque initiierte Herz-Jesu-Verehrung eine Befreiung aus der „vernünftigen”, sachlichen und nüchternen Frömmigkeit und die Wiedergewinnung der emotionalen Kategorie einer selbstverantwortlichen religiösen Erfahrung. Gewiss hätte die schlichte Nonne ohne Förderung von außen ein ähnliches Schicksal erfahren wie Joseph von Cupertino (1603-1663). Dieser Kapuzinermönch wurde fünfunddreißig Jahre seines Lebens von seinem Orden vor der Öffentlichkeit versteckt. Der Grund waren seine häufigen ekstatischen Verzückungen, die u.a. mit Levitationen einhergingen. Daher ist er übrigens Patron der Astronauten. Und weil er völlig unfähig war, sich auch nur das geringste Wissen anzueignen, wird er auch als Patron der vor Prüfung stehenden Schüler und Studenten verehrt.

Schwester Magareta Maria Alacoque dagegen findet in ihrem Beichtvater, der dem Jesuitenorden angehörte, einen Förderer und Unterstützer. Er verteidigt die Visionärin nicht nur gegen Vorwürfe und bestätigt sie in ihrer Frömmigkeitsform, sondern sorgt auch für eine erstaunlich rasche Verbreitung des Kults. Der Herz-Jesu-Kult führte zunächst in Frankreich zu einer religiösen Massenbewegung unter Laien. In den kommenden hundert Jahren entstanden an die 1000 Herz-Jesu-Vereinigungen. Indes zeigte sich die römische Kirchenleitung wenig an dieser Frömmigkeitsform interessiert; zu barock, zu irrational, zu laikal und wohl auch zu weiblich erschien führenden römischen Theologen dieser Kult der Organanbetung.11 Erst 1756 wurde der Kirche Polens die Feier eines Herz-Jesu-Fests erlaubt; hundert Jahre später wurde es durch Papst Pius IX. zu einem allgemeinen Fest der ganzen Kirche bestimmt. „In der Physiologie und in der Religion hatte das Herz sich endlich einen zentralen Platz erobert und sollte diesen einstweilen auch nicht mehr verlieren.”12

Das gegenrevolutionäre Herz

Als im revolutionären Frankreich bekannt wird, dass König Ludwig der XVI. vor seiner Hinrichtung Frankreich dem Herzen Jesu geweiht habe, wird das Herz-Jesu-Bild zum Symbol der monarchistischen Gegenrevolution. Die Bauern der Vendée trugen als Zeichen der Kirchen- und Königstreue ein Herz-Jesu-Emblem. Seine Liebe erwiderten sie durch ihren Aufstand. Die revolutionäre Regierung verbot Kult und Bild; in Nantes wurde eine Familie, die Herz-Jesu-Bilder verteilt hatte, durch das Fallbeil hingerichtet. Und nach der Ermordung Marats wurde zu seinem Herzen eine Litanei gebetet; die falsche antirevolutionäre gleichsam durch die richtige revolutionäre Herzverehrung ersetzt.13 Als die napoleonischen Truppen sich im Juni 1796 Tirol nähern, geloben die Tiroler Stände unter Andreas Hofer in der Pfarrkirche zu Bozen, als Herz-Jesu-Fest eine jährliche Prozession zu Ehren des heiligen Herzen Jesu abzuhalten, wenn es ihnen gelänge, die Truppen zu vertreiben. Seit dem Sieg in der Schlacht von Spinges wird das Herz Jesu zu einem Identifikationsmoment. Wie abwegig diese Identifikation endete, zeigt die sogenannte Bozener Feuernacht, als in der Nacht zum Herz-Jesu-Fest 1961 zahlreiche Bomben von Separatisten gezündet wurden.


König Ludwig der XVI. weihte kurz vor seiner Hinrichtung (21.1.1793) Frankreich dem Herzen Jesu. Zeichnung von Joseph Ducreux. Original: Musée Carnavalet, Paris.

Im 19. Jahrhundert wird die Herz-Jesu-Verehrung sich von dieser politischen Konnotation nicht lösen können. Sie wird ein Signum restaurativer katholischer Kräfte, die in den Entwicklungen der Moderne eine zu sühnende Kränkung des Herzen Jesu sehen. Diese Ideologisierung hat ihren sichtbarsten Ausdruck im Bau von Sacré-Cœur de Montmartre gefunden. Der Aufstand der Pariser Kommune, die Niederlage im Krieg mit Preußen und seinen Verbündeten sind Anlass für ein Symbol der Sühne. „Das Karl Marx und den Deutschen glücklich entronnene Großbürgertum beschließt, eine Herz-Jesu-Kirche auf dem Sandhügel Montmartre zu erbauen.”14 Und obwohl der Bau zu einer nationalen Aufgabe deklariert wird, ziehen sich die Bauarbeiten bis in das zweite Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts hin. Dass die Weihe der Kirche in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu der ersten klinischen Beschreibung eines Herzinfarkts durch James Herrick (1912) geschah, sei zumindest notiert. Der französische Katholizismus setzte mit dieser Kirche zugleich der als durch und durch französisch empfundenen Frömmigkeitsform ein Denkmal. Die älteste Tochter der Kirche, wie ihr Ehrentitel lautet, erinnert an das Geschenk, das sie der Kirche durch die Herz-Jesu-Frömmigkeit machte.


Henri de la Rochejaquelin (1772-1794), Führer der monarchistischen Gegenrevolution in Frankreich, trug wie auch seine Anhänger als Zeichen der Kirchen- und Königstreue ein Herz-Jesu-Emblem. Gemälde von Pierre Narçisse Guerin. Original: Musée des Guerres de Vendée, Cholet.

Aber genau hier liegen unter anderem die Schwierigkeiten, die die Rezeption der Herz-Jesu-Verehrung für die Kirche in Deutschland bedeutete. Nicht nur, dass sich hier die Abwehr des Kults als abwegige Frömmigkeit am dauerhaftesten hielt, sondern sie musste auch gegen die Vorbehalte ankämpfen, es sei ein rein französischer und weiblicher Kult. Erst die ultramontane Bewegung und die Auseinandersetzungen im Kulturkampf integrieren ihn in das Leben deutscher Katholiken. Aber noch 1932 meint ein Verteidiger des Kults betonen zu müssen, dass die Herz-Jesu-Verehrung keineswegs eine „französische Andacht” genannt werden darf. Denn die französische Nonne habe nur das weiterentwickelt, was in der deutschen Mystik schon immer angelegt gewesen sei. Eine merkwürdige Spielart imperialer Theologie.15 Hierbei wird der grundlegende Unterschied zwischen mittelalterlicher Passionsfrömmigkeit und dem Herz-Jesu-Kult einfach verneint.


Sacré-Cœur de Montmartre in Paris, errichtet von 1875 bis 1919. Mit dieser Kirche setzte der französische Katholizismus der Herz-Jesu-Frömmigkeit ein Denkmal.

Verlust durch Inflation

Das Herz-Jesu-Fest wird immer noch in der katholischen Kirche gefeiert; diesjährig auch auf dem Expo-Gelände. Und doch hat der Kult den Zenit seiner Bedeutung längst überschritten. Gründe dafür mag es viele geben; gewiss ist, dass ein Kult, der so auf Metaphorik und Symbolik angewiesen ist, dann an Ausstrahlung verliert, wenn das Symbol inflationär gebraucht wird und ihm keinerlei Dignität außer der Verkaufsförderung mehr eignet. In einer Warenwelt, in der Hunde ihr Fressen lieben können und die Dosen dementsprechend mit Herzen dekoriert sind, ist es schwer, im Bild des Herzens noch einen Ausdruck tiefer Zuwendung zu entdecken. Das Herz ist ein Piktogramm unter vielen, es ist zu Tode gesehen. Des Weiteren ist das Symbolisierte keineswegs so einfach vermittelbar, dass der Verweis auf das Symbol genügte. Das Grundproblem religiöser neuzeitlicher Rede, nämlich auf metaphorische Sprache angewiesen zu sein, um vom Absoluten sprechen zu können, versagt da, wo die Rede nicht mehr auf das Absolute zu bringen ist. In diesem Sinne bleibt die französische Nonne aktuell, da ohne die Kategorie der Erfahrung religiöse Sprache ins Leere läuft.

Dunning meint, das Verschwinden der Herz-Jesu-Frömmigkeit hänge zusammen mit der medizinhistorischen Tat des Christiaan Barnard, der gleichsam einen neuen Kult um das Herz eröffnet habe, aber eben diesmal um das reale Herz. „Das Herz erlebt einen neuen Kult, bei dem es durch Fasten und Laufen von Unreinheit geläutert wird [...].” Zugleich erleben wir eine neue Form der Organanbetung: „Wir haben das Schicksal unseres Herzens in der Hand.”16 Das Herz ist wieder der Herzmuskel. Nicht die Nonne aus Frankreich hat Recht behalten, sondern der Arzt aus England: Das Herz ist die Pumpe im William Harveyschen Blutkreislauf.


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1 Wolff 1984, S. 92
2 Kampling 1995, S. 140
3 vgl. Wilckens 1998, S. 300
4 vgl. Schenke 1998, S. 362-363
5 vgl. Rahner 1964, S. 177-235
6 vgl. Alacoque 1926, S. 54-55
7 vgl. Laureys 1998
8 vgl. Schmidt-Biggemann 1999
9 vgl. Curtius 1924
10 Cognet 1970, S. 97 ).
11 Vgl. Busch 1997, S. 31-62
12 Dunning 1992, S. 51
13 vgl. Busch 1997, S. 61-62
14 Dunning 1992, S. 52
15 Richstaetter 1932, S. 1014.
Zur Kritik vgl. Busch 1997, S. 47f
16 Dunning 1992, S. 56f

Literatur

Alacoque, Margareta Maria: Leben und Werke. Hrsg. von der Redaktion des Sendboten des göttlichen Herzens Jesu. Innsbruck 1926.

Busch, Norbert: Katholische Frömmigkeit und Moderne. Die Sozial- und Mentalitätsgeschichte des Herz-Jesu-Kultes in Deutschland zwischen Kulturkampf und Erstem Weltkrieg (Religiöse Kulturen der Moderne 6). Gütersloh 1997.

Cognet, Louis: Das kirchliche Leben in Frankreich. In: Handbuch der Kirchengeschichte, Hrsg. Hubert Jedin. Band 5. Freiburg 1970, S. 3-119.

Curtius, Ernst Robert: Die französische Mystik des 17. Jahrhunderts. In: Hochland 21 (München)1924, S. 120-133.

Dunning, Arend Jan: Extreme. Betrachtungen zum menschlichen Verhalten. Frankfurt a. M. 1992.

Kampling, Rainer: Herz. In: Neues Bibellexikon. Hrsg. v. Bernhard Lang/Manfred Görg. Band 2. Zürich 1995, S. 140-141.

Laureys, Marc (Hrsg.): The World of Justus Lipsius: a Contribution towards his intellectual Biography. Turnhout 1998.

Rahner, Hugo: Symbole der Kirche. Freiburg 1964.

Richstaetter, Karl: Herz Jesu. In: Lexikon für Theologie und Kirche. Band 4. Hrsg. Buchberger, Michael. Freiburg 1932, S. 1011-1015.

Schenke, Ludger: Johannes-Kommentar. Düsseldorf 1998.

Schmidt-Biggemann, Wilhelm: Blaise Pascal. München 1999.

Wilckens, Ulrich: Das Evangelium nach Johannes (Neues Testament Deutsch 4).
Göttingen 1998.

Wolff, Hans: Anthropologie des Alten Testaments. München 1984.