FU Berlin

Foto: bpk Berlin - Das Gericht im Jenseits: Die Verstorbene, Nefer-is, wird vor Osiris, den Gott der Unterwelt, geführt. Ihr Herz wird gegen die Wahrheit gewogen. Sie opfert den Göttern Osiris, Isis und Nephtys. Szene aus dem Totenbuch (Kap. 125), ägyptischer Papyrus um 350 v. Chr. Original: Staatliche Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Ägyptisches Museum.

 

Das Herz auf der Waage

Im altägyptischen Totengericht fand eine genaue Gewissensprüfung statt

Dr. Axel Lange

Das Herz hatte im Reich der Pharaonen die Funktion eines Superorgans. Es war zuständig für Gefühl, Verstand und Fortpflanzung. Kein Wunder, dass auch die Götter über das Herz zum Menschen sprachen. Der Wissenschaftsjournalist Dr. Axel Lange schildert, welche Hürden die alten Ägypter auf dem Weg ins Paradies zu überwinden hatten.

„[Ich bin froh] im Besitz meiner Liebe,
auch wenn ich allein bin.
Mein Herz hält dem deinen die Waage.
Deiner Güte bin ich nicht fern.”
(Zitat nach Hermann 1959, S. 79)

Eine harmonische Liebesbeziehung als Balance der Herzen. Schon im alten Ägypten galt das Herz als Sitz des Gefühls; nicht nur in der Liebesdichtung. Die Pharaonen „neigten ihr Herz”, wenn sie den Untertanen Gnade erwiesen. Ihre Vertrauten zeichneten sie aus, indem sie ihnen ein Doppelherz aus Gold und Silber umhängten. Von den Soldaten wünschten sich die ägyptischen Könige, dass sie mit einem „dicken Herz” in den Krieg zogen, also mit einem festen und mutigen Herz. Ärgerten sich die alten Ägypter, so „stank ihnen das Herz”. Bereiteten sie ihren Mitmenschen eine Freude, so „wuschen sie ihnen das Herz”. Eine erzürnte Gottheit war den Menschen wieder gnädig, wenn sie ihr „Herz gewaschen” hatte.
Die alten Ägypter lokalisierten im Herzen nicht nur das Gefühl, sondern auch den menschlichen Verstand. Alles Wissen wurde im Herzen gespeichert. Ein herzloser Mensch war deshalb für sie kein emotionaler Rohling, sondern schlichtweg ein Dummkopf. Einige Textzeugnisse sprechen sogar vom Herzen als Ursprung des männlichen Samens. Das Herz hätte demnach im Reich der Pharaonen den Rang eines menschlichen Superorgans gehabt – zuständig für Gefühl, Verstand und Fortpflanzung. Kein Wunder, dass auch die Götter über das Herz zum Menschen sprachen. Es wurde so zur „Nase Gottes”, die dem menschlichen Handeln die Richtung wies. Mit modernen Begriffen gesprochen: Das Herz war im alten Ägypten der Ort des inneren Menschen, der Sitz des Gewissens. In einem Text aus der Anfangszeit des Neuen Reiches (ca. 1500 v. Chr.) heißt es: „Mein Herz war es, das mich dazu antrieb, [meine Pflicht] zu tun entsprechend seiner Anleitung. Es ist für mich ein ausgezeichnetes Zeugnis, seine Anweisungen habe ich nicht verletzt [...].” (Zitat nach Assmann 1990, S. 120) Die Menschen brauchten dieses Zeugnis nach ihrem Tod, um in der Unterwelt vor dem Gericht des Gottes Osiris bestehen zu können. Vor dem Eintritt in die Ewigkeit stand eine penible Gewissensprüfung, die nur Tote mit einem reinen Herzen bestehen konnten.

Mistkäfer – Symbol des ewigen Lebens

Die alten Ägypter wollten die Reise ins Jenseits mit einem unversehrten Körper antreten. Sie hatten die Hoffnung, dass sich Körper und Seele im Totenreich zu einem neuen Leben verbinden würden. Hätten sie ihre Körper verfallen lassen, so ihre Vorstellung, wären die unzerstörbaren Seelenkräfte im Jenseits zu einem rastlosen Umherirren verdammt gewesen. Es ist bekannt, dass die Einbalsamierer die inneren Organe entfernten, bevor sie die Leichname in Natronlauge konservierten. Die menschlichen Innereien wurden neben den Mumien in besonderen Gefäßen bestattet, den Kanopen. Hier gab es nur eine Ausnahme: das Herz. Das zentrale Organ des Menschen behielt seinen ursprünglichen Platz im Körper. Über seinem Platz im Brustkorb wurde in die Leinenbinden ein besonderes Amulett eingewickelt – der Herzskarabäus.


Brustschmuck mit Skarabäen, Sonnenscheiben und Kobras aus dem Grab des Pharao Tutanchamun. Original: Ägyptisches Museum Kairo.

Der Skarabäus ist eigentlich nur ein gewöhnlicher Mistkäfer. Im Reich der Pharaonen galt er als eine Manifestation des allmorgendlich erwachenden Sonnengottes, ein Symbol des ewigen Lebens. Die alten Ägypter hatten den kleinen Käfer beobachtet, wie er mit den Hinterbeinen eine runde Mistkugel vor sich hin rollte und darin den Lauf der Sonne wieder erkannt. Die Toten trugen also ein Symbol des Sonnengottes Re über ihrem Herzen, mit dem sie im Jenseits jeden Morgen auferstehen wollten. Die meisten Herzskarabäen waren aus grüner Fayence gearbeitet, in der Farbe der ewigen Jugend. Die Sprüche auf der Unterseite der Amulette hatten eine magische Funktion. Sie sollten das Herz beeinflussen, beim Totengericht nicht gegen den Verstorbenen auszusagen. Die am häufigsten angewandten Formeln stammen aus dem Kapitel 30 B des Totenbuches, das seit dem Neuen Reich der altägyptische „Reiseführer” für das Jenseits war:

„Mein Herz meiner Mutter,
mein Herz meiner Mutter,
mein Herz meiner wechselnden Formen –
Stehe nicht auf gegen mich als Zeuge,
tritt mir nicht entgegen im Gerichtshof,
mach keine Beugung gegen mich vor dem Wägemeister!”
(Zitat nach Hornung 1979, S. 96)

Die berühmte Gerichtsszene aus dem Totenbuch zeigt, wie der schakalköpfige Anubis, der Gott der Balsamierer, den Verstorbenen vor Osiris führt. Der Gott der Unterwelt hat den Vorsitz in dem Gerichtsprozess. Zu Beginn der Verhandlung wird das Herz des Toten auf eine Standwaage gelegt und gegen die „Ma´at” aufgewogen. Das altägyptische Prinzip der göttlichen Gerechtigkeit wird in den meisten Darstellungen mit seinem Hieroglyphensymbol als Feder abgebildet. Thot, der ibisköpfige Schutzgott der Schreiber, führt das Protokoll. Unter der Waage lauert als Scharfrichter ein Monstrum, das in sich die drei gefährlichsten Tiere des Landes am Nil vereinigt. Es hat den Kopf eines Krokodils, den Rumpf eines Löwen und das Hinterteil eines Nilpferds. Fällt der Urteilsspruch des Totengerichts gegen den Verstorbenen aus, öffnet das Monstrum sein riesiges Maul und verschlingt den Verurteilten.


Goldmaske aus dem inneren Sarg des Tutanchamun, ägyptischer Pharao der 18. Dynastie (geb. um 1346 v. Chr., gest. 1337 v. Chr.). Original: Ägyptisches Museum Kairo.

Damit dies nicht passierte, bot das Totenbuch im Kapitel 125 dem Verstorbenen Formeln an, mit denen er sich vor Gericht rechtfertigen konnte. Die Sprüche sind als „negatives Sündenbekenntnis” gefasst und enthalten – positiv gewendet – den Inhalt der göttlichen „Ma´at”: die detaillierten Pflichten der Ägypter gegenüber dem Gesetz, dem König und den Göttern. „Ich habe keine Vögel aus dem Sumpfdickicht der Götter gefangen”, heißt es in dem Kapitel zu den religiösen Pflichten, in dem auch die Tabus behandelt werden. „Ich habe das Überschwemmungswasser nicht zurückgehalten in seiner Jahreszeit”, konnte der verstorbene Bauer dem Totengericht bekennen. Sehr einfühlsam formuliert sind die Passagen über den Verhaltenskodex gegenüber den Mitmenschen:

„Ich habe keinem Schmerz zugefügt,
ich habe keinen hungern lassen,
ich habe keine Tränen verursacht,
ich habe nicht getötet,
ich habe nicht zu töten befohlen,
ich habe niemandem Leid zugefügt.”
(Zitat nach Assmann 1990, S. 139)

Die Botschaft des altägyptischen Totengerichts ist klar: Mit dem Herz auf der Waage wurde die Verantwortung für das gelebte Leben geprüft. Aber warum mussten die Verstorbenen ihr Herz bitten, nicht gegen sie auszusagen? Das Bild von dem Herzen, zu dem der Tote in einen beschwörenden Dialog tritt, ist vielleicht ein Symbol für Gewissenskonflikte, die auch heutige Menschen in sich austragen, wenn sie sich mit den Regelsystemen in Religion und Gesellschaft auseinandersetzen. In der Sprache der Psychologie: Das Gespräch mit dem Herzen ist ein Bild für den spannungsgeladenen Dialog zwischen „Ich” und „Über-Ich”. Wobei das „Über-Ich” der Religion im Totenbuch natürlich nicht in Frage gestellt wird. All diese Konflikte ließen die Toten hinter sich, wenn sie nach dem Freispruch des Gerichts ins Paradies eintraten. Denn hier herrschte uneingeschränkt die Ma´at, die den Toten ein ewiges Leben in göttlicher Harmonie garantierte. Die altägyptische Religion kannte für das Jenseits viele Bilder und Vorstellungen. Der vielleicht schönste Lohn für die gerechten Toten: Sie durften in der Barke des Sonnengottes Re eine unbeschwerte Reise am Himmelszelt antreten. Jeden Tag aufs Neue.

Literatur

Assmann, Jan: Ma´at. Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im Alten Ägypten. München 1990. Siehe bes. das Kapitel V. Reinheit und Unsterblichkeit: Die Idee des Totengerichts, S. 122ff.

Brunner, Helmut: Herz. In: Wolfgang Helck, Wolfhart Westendorf (Hrsg.): Lexikon der Ägyptologie. Wiesbaden 1977, S. 1158-1168.

Feucht, Erika: Herzskarabäus. In: Wolfgang Helck, Wolfhart Westendorf (Hrsg.): Lexikon der Ägyptologie. Wiesbaden 1977, S. 1168-1170.

Hermann, Alfred: Altägyptische Liebesdichtung. Wiesbaden 1959.

Hornung, Erik: Das Totenbuch der Ägypter. Zürich 1979.