FU Berlin

Foto: bpk Berlin - Aztekisches Herzopfer vor einer Tempelpyramide. Der Opferpriester hat mit einem Feuersteinmesser den Brustkorb des Gefangenen geöffnet; das herausgetrennte Herz schwebt auf einem Blutstreifen neben einer Federstandarte in der Luft. Kolumbianische Zeichnung.

 

Der Flug des Adlerherzens

Die Azteken wollten mit rituellen Herzopfern den Lauf der Sonne erhalten

Dr. Axel Lange

Nur mit Menschenopfern glaubten die Ureinwohner Mexikos, den Zorn ihrer Götter besänftigen zu können. Der Wissenschaftsjournalist Dr. Axel Lange schildert die Mythenwelt des blutigen Sonnenkults der Azteken.

Quetzalcóatl war verzweifelt. Wie sollte er sein Volk retten, das vor den Göttern gesündigt hatte? „Du musst Menschen opfern”, flüsterten die drei Dämonen dem König ins Ohr, die Land und Leute mit bösen Streichen heimsuchten. Quetzalcóatl weigerte sich standhaft. Er hatte bis jetzt nur Schlangen, Vögel und Schmetterlinge geopfert. Aber die Plagen der bösen Geister wollten nicht aufhören. Immer mehr Menschen starben an ihren Quälereien. Der König fasste in seiner Not einen dramatischen Entschluss:

„Da hub er an zu weinen und legte den Schmuck ab, den er trug, den Federschmuck der Küstenleute, die Türkismaske und alles übrige; und als er damit fertig war, verbrannte er sich selbst aus freien Stücken. Darum heißt der Ort, wo sich Quetzalcóatl verbrannte, die Stätte der Verbrennung. Und man sagte, dass seine Asche emporstieg, nachdem er sich verbrannt hatte, und dass dann alle möglichen Vögel mit kostbarem Gefieder erschienen, die man in die Höhe, zum Himmel fliegen sah: Löffelreiher und Kotingas, Tzinitzcan und Ayoquan, Papageien, Araras und Loros und alle sonstigen Arten von Schmuckvögeln. Und nachdem die Asche ganz verflogen war, stieg das Herz Quetzalcóatls vor aller Augen empor. Wie man in Erfahrung brachte, ging es zum Himmel und in den Himmel ein. Die Alten erzählen, es habe sich in einen Stern verwandelt, der in der Morgendämmerung erscheint und der [zum ersten Mal] sichtbar wurde, als Quetzalcóatl starb. Man nannte ihn nunmehr den Herrn der Dämmerung.” (Zitat nach Krickeberg 1968, S. 61)


Sonnenstein zu Ehren des Gottes Tonatiuh: Im Jahr 1497 ließ der sechste Herrscher der Azteken, Axayácatl, den Stein anfertigen und im Haupttempel von Tenochtitlán aufstellen. Als die Spanier die Stadt eroberten, warfen sie ihn auf den Hauptplatz. Da der Sonnenstein aber weiter angebetet wurde, ließen sie ihn dort vergraben. Erst 1790 wurde er bei einer städtischen Grabung wiedergefunden. Heute befindet sich der Sonnenstein im Museo Nacional de Antropologia y Historia von Mexiko City

Geschichten über Menschenopfer, mit denen der Zorn der Götter besänftigt werden sollte, sind aus vielen Kulturen der Welt überliefert. An der Geschichte aus der Sagenwelt der Azteken fällt auf, dass sich nach dem Selbstopfer des Königs allein das Herz in einen Himmelsstern verwandelte und Quetzalcóatl damit zu einer Gottheit erhob. Das Herz war in der Vorstellungswelt der Urmexikaner das kostbarste Gut des Menschen. In ihm brannte das göttliche Feuer „Teyolia” – die Urkraft, die den Menschen beseelte, ihm Verstand und Sinne verlieh. Auch in Bergen, Seen und Bäumen brannte ein kosmisches Feuer. Die Azteken lebten in einer von göttlichen Kräften beseelten Welt. Und sie lebten in einer bedrohten Welt. Die Mythen der Azteken berichten von mehreren aufeinander folgenden Welten, die durch Naturkatastrophen untergegangen waren. Ihre eigene Welt wollten sie mit ständigen Bußübungen und Opfern erhalten. Dazu gaben ihnen ihre Götter selbst ein Vorbild. Am Anfang des aztekischen Weltendramas stand ein regungsloser Sonnengott, der erst nach dem Selbstopfer weiterer Götter seinen Lauf am Himmelsgewölbe begann. Von nun an folgte ein stetiger Wechsel von Tag und Nacht, der als Tod und Wiedergeburt der Sonne begriffen wurde. Die Urmexikaner sahen es als ihre heilige Pflicht an, die Sonne mit Herzensblut zu speisen. Ansonsten, so ihre Furcht, würde sich eine ewige Nacht über die Erde senken.

„Die legen sie mit der Brust nach oben und schneiden ihnen die Brust auf mit einem dicken breiten Feuersteinmesser. Und das Herz der Gefangenen nennt man Adlerfrucht, Edelstein. Sie heben es weihend zur Sonne empor, zu dem Türkisprinzen, dem aufsteigenden Adler, geben es ihr, nähren sie damit. Und die Gefangenen, die geopfert worden, nennt man die aus dem Adlerlande.” (Zitat nach Seler 1962, S. 76)

Die rituellen Herzopfer der Azteken fanden in luftiger Höhe statt, auf den Plattformen von Tempeln, die wie Pyramiden aus den Städten der Urmexikaner hervorragten. Der Priester und seine Gehilfen wollten der Sonne möglichst nahe sein, wenn sie mit dem Feuersteinmesser zum Gottesdienst schritten. Die meisten Opfer waren Kriegsgefangene. In dem indianischen Text, den der spanische Pater Bernardino de Sahagún im 16. Jahrhundert in seiner Ursprache aufzeichnete, klingt an, wie hoch die Gefangenen geachtet wurden. Sowohl Priester als auch Opfer waren sich ihrer Rolle in dem kosmischen Drama bewusst. Die Menschen, die ihr Herz hingaben, starben in der Erwartung, als Götter in das Reich des Sonne einzugehen – wie Quetzalcóatl, der nach seinem Opfertod als Himmelsstern auf die Erde niederblickte.


Kopf des Sonnengottes Tonatiuh, Steinskulptur, entstanden zwischen 1450 und 1521. Museum für Völkerkunde, Basel.

Die Azteken haben noch kurz vor dem Einfall der spanischen Eroberer gigantische Opferrituale gefeiert. 1487 führte König Ahuítzotl nach einem siegreichen Feldzug gegen die Huaxteken endlose Kolonnen von Gefangenen nach Tenochtitlán, dem heutigen Mexico City. Die einheimische Bevölkerung begrüßte die Huaxteken mit Blumen und schenkte Kakao aus – ein Getränk, das normalerweise der Oberschicht vorbehalten war. Dann kam der Tag des großen Tempelfestes. Die mit Federn geschmückten Gefangenen wurden aus vier Himmelsrichtungen zu dem großen Tempel geführt, dessen bunt bemalte Stuckschicht hell in der Sonne aufleuchtete. In langen Reihen stiegen sie die Stufen des Tempels hinauf, wo sie schon von Ahuítzotl und seinen Priestern erwartet wurden. Der König opferte mit seinen Gehilfen in vier Tagen mehr als tausend Huaxteken.
Als die Spanier 1519 unter Hernán Cortéz in das Aztekenreich eindrangen, entdeckten sie mit blankem Entsetzen die Spuren der rituellen Massenschlächtereien. Cortéz soll in den Tempeln Tenochtitláns voller Wut eigenhändig mehrere Götzenbilder zerschlagen haben. Die Indios wiederum fürchteten nichts mehr als die Martern der spanischen Inquisition. Sie spürten intuitiv, dass die Folter allein auf die Bestrafung „gottloser Heiden” abzielte.

Auch wenn dies heute nur noch schwer verständlich ist: Die Azteken versuchten mit menschlichen Herzopfern neues Leben zu schaffen und zu erhalten. Deshalb reichten sie ihr eigenes göttliches Feuer an die lebensspendende Sonne weiter. Als ihnen die neuen spanischen Herren mit strengen Strafen ihre Opferrituale verboten, versanken viele Indios in Angst und Depression. Betrübten Herzens ergab sich mancher Azteke dem Alkohol. Die spanischen Konquistadoren hatten ein anderes Problem. Sie litten, wie Hernán Cortéz gegenüber dem Aztekenherrscher Montezuma freimütig bekannte, an einer „Krankheit des Herzens, die nur mit Gold geheilt werden kann.”

Literatur

Carrasco, David: Daily Life of the Aztecs. People of the Sun and Earth. Westport (Ct), London 1998. Die „Anthropologie” der Azteken wird in dem Abschnitt: The Human Body as a Cosmos (S. 53ff.) erläutert.

Davies, Nigel: Die Azteken. Meister der Staatskunst – Schöpfer hoher Kultur. Düsseldorf, Wien 1974, 3. Aufl. 1976. Das Tempelfest Ahuítzotls wird S. 212ff. beschrieben.

Krickeberg, Walter (Hrsg.): Märchen der Azteken und Inkaperuaner. Düsseldorf, Köln 1928, 11. Aufl. 1968.

Seler, Eduard: Das Herz auf dem Opferstein. Aztekentexte. Übersetzungen aus der Ursprache. Ausgewählt und mit einem Nachwort versehen von Janheinz Jahn. Düsseldorf 1962.

Soustelle, Jacques: So lebten die Azteken. Stuttgart 1955, 2. Aufl. 1957. Vgl. bes. Kap.3: Die Welt, der Mensch und die Zeit, S. 126ff.