FU Berlin

Abb.: Mann, der das eigene Herz isst, Holzschnitt eines unbekannten Künstlers, um 1500.

 

Verzehren, regieren und bestatten

Vorstellungen vom menschlichen Herzen in der europäischen Geschichte – eine Annäherung

Dr. Michaela Hohkamp, Dr. Gabriele Jancke, Claudia Jarzebowski, M.A., Prof. Dr. Claudia Ulbrich

Das Herz schlägt historisch. Die Menschen brauchen es, sie gebrauchen es aber auch – im Denken und den Riten, mit denen sie sich den Spiegel ihrer Lebenswelt vorhalten. Die Historikerinnen Dr. Michaela Hohkamp, Dr. Gabriele Jancke, Claudia Jarzebowski, M.A., und Prof. Dr. Claudia Ulbrich nähern sich dem Forschungsfeld von drei Seiten her – von der Gewalt und Vernichtung, der Herrschaft und Ordnung, der Ehrung der Toten und Repräsentanz des Lebendigen. Die Wege scheinen auseinander zu streben und doch kreuzen sie sich nicht nur im Sinnbild des Herzens. Denn dessen Metaphorik füllt seinen Assoziationsraum – jenseits simpler Gefolgschaft dessen, was in den Büchern steht – aus den Korrespondenzen und Reibungen von Lust, Angst und Begehren, den Wünschen nach Sicherheit und Ordnung, aus der Emotionalität sozialen Seins und dessen Umschlagen in den pädagogischen Ton, wie dies im Verzehren, Regieren und Bestatten Geschichte wird.

„...aber der Cörper zerstücket und nebenst dem Herzen zugekocht...”

Cor amantis non angustum1
In einer Novelle des Decamerone erzählt der italienische Dichter Boccaccio die Geschichte von Guiglielmo Rossiglione (Wilhelm von Roussillon), der seiner Frau das Herz ihres Geliebten, den er umgebracht hat, zu essen gibt. Als sie davon erfährt, stürzt sie sich aus dem Fenster und stirbt.2 Geschichten wie diese sind in der Literatur häufig überliefert und zeigen den besonderen Stellenwert des Herzens im Umfeld von Liebe und Rache.3 Dabei handelt es sich um ein Motiv, das sich auch noch im 17. Jahrhundert großer Beliebtheit beim Publikum erfreute. In Shakespeares Komödie Much Ado About Nothing (Viel Lärm um Nichts) etwa äußert Beatrice ihre Rachegelüste wegen des Verrats, den ein untreuer Liebhaber ihrer Cousine angetan hatte: „O God! that I were a man! I would eat his heart in the market-place.”4

In ganz andere Zusammenhänge führen Texte, die im Umfeld frühneuzeitlicher Gerichtspraxis entstanden sind. Zwar geht es auch hier um den Verzehr menschlicher Herzen, doch handeln diese Geschichten nicht mehr von Liebe und Leid, Herz und Schmerz, sondern von Folter, roher Gewalt und Grausamkeit. Ein besonders instruktives Beispiel einer solchen Quelle ist der „Wahrhafftige und gründliche Bericht von den unerhört begangenen grausamen und schröcklichen Mordthaten / Ehebruch / Hurerey / Blutschande / Sodomiterey / Mordbrändt und Diebstalen der einander nahe verwanten Personen”.5 Erzählt wird die Geschichte der Familie Liehmann, die im Jahr 1661 angeklagt und hingerichtet wurde. In dieser Quelle aus dem 17. Jahrhundert wird die Verurteilung dieser Bande gerechtfertigt, der über 30 Raubmorde zugeschrieben werden. In drei Anklagepunkten wird den Liehmanns vorgeworfen, 16 Herzen „gefressen” zu haben. Erstens wird Hans Liehmann beschuldigt, gemeinsam mit seinem Schwager „sein eigen Kind, so bald dasselbe zur Welt geboren [...] angegriffen [...] dem Kind anfangs das Häuptlein mit einer Axt abgehauen, hernach ihme den Leib aufgeschnitten, das Herz und Eingeweide heraußgenommen” zu haben. Dann seien „Eingeweide sambt dem Haupte zwar begraben, aber der Cörper zerstücket und nebenst dem Herzen zugekocht [worden], welches hernachen sein gegenwertiges Weib, sein gegenwertiger Sohn und der Georg Wampe gefressen”. Zweitens hätten die Männer fünf Frauen „nach einander genothzüchtiget, nach diesem aber mit einer Axt vor den Kopf geschlagen, sie gleichfals auffgeschnitten und (von ihnen) das Herze gefressen”, drittens hätten die Liehmanns fünf schwangere Frauen „annoch lebendig auffgeschnitten und von ihren Leibesfrüchten, so gleichfals gelebet, die Herzen gerissen”.

Bislang weiß die Geschichtswissenschaft über solche Geschichten und ihren möglichen realhistorischen Bezug wenig. Aber eines ist gewiss: Exempel wie diese hatten didaktischen Charakter. Indem sie die begangenen Gewalttaten in Wort und Bild besonders drastisch schilderten, sollten sie den Untertanen die Notwendigkeit einer ordnenden Obrigkeit vor Augen führen, sie zu Gehorsam anleiten und verhindern, dass die zuschauende Öffentlichkeit Mitleid oder Sympathie mit den Hingerichteten empfinden konnte. Vergleichbares lässt sich auch über historische Quellen sagen, die über ein Jahrhundert früher von rituellem Kannibalismus auf dem gerade neu entdeckten südamerikanischen Kontinent berichteten. Als „Wahrhafftige Historia” erzählen sie vom Verzehr gekochten oder gebratenen Menschenfleisches, über dem Feuer in Töpfen oder auf Rosten gegart. Wie die neuere Forschung gezeigt hat, sind auch hier Zweifel an der Authentizität der Berichte angebracht. Die Funktion solcher Imaginationen ist aber sicherlich als der didaktische Versuch zu deuten, die Bevölkerung der Neuen Welt ins moralische Abseits zu stellen und den bereits von Zeitgenossen kritisierten Völkermord an der einheimischen Bevölkerung zu legitimieren.6

„Wenn man die Toten [...] ißt, hat man Ruhe, das Herz klopft nicht”

Im Gegensatz zu Berichten über Menschenfresserei auf dem europäischen Kontinent, die etwa vom Verzehr eines feindlichen Herzens in den Niederlanden 1672 erzählen, sind Herzen in Beschreibungen über kannibalische Praktiken in den neu entdeckten Ländern Südamerikas kein Thema.7


Bilder von kannibalischen Indianern wie dieser Kupferstich von Theodor de Bry aus dem Jahr 1593 spiegeln die mittelalterliche Vorstellung von den fremden Wilden in der Neuen Welt wider. Mit der Realität hatten sie nichts gemein. Original: Staatliche Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Kunstbibliothek.

Allein das Trinken von Blut oder das Verspeisen von anderen inneren Organen – Lunge, Leber etc. in Brühe gekocht und getrunken – sind in den entsprechenden Textsorten geschildert. Erst zum Ende des 18. Jahrhunderts lassen sich in Beschreibungen kannibalischer Riten nordamerikanischer Indianer Hinweise auf das Herausreißen von Herzen finden.8 In pazifischen Gesellschaften dagegen gilt der Verzehr von Köpfen, Beinen und Armen – glaubt man ethnologischen Darstellungen – als beruhigendes Mittel. Denn: „Wenn man die Toten nicht ißt, muß man Angst haben. Wenn man sie ißt, hat man Ruhe, das Herz klopft nicht.”9 Aber gleichgültig, ob der Verzehr von Menschenfleisch der Beruhigung des klopfenden Herzens dienen soll oder Herzen aus Rache herausgerissen und zur Speise gereicht oder im Kontext anderer Gewalttaten zum Gegenstand des Interesses wurden: Die erzählenden Quellen entstammen ausnahmslos der europäischen Denkwelt und verweisen somit nicht etwa auf besondere Praktiken ganzer Ethnien oder sozialer Randgruppen, sondern auf die Bedeutungsvielfalt des Herzens und seiner Symbolik in der europäischen Welt.


„Menschenfresser” in Brasilien, Kupferstich, Amsterdam 1671

Das Herz: die Stätte, an der Gedanken und Empfindungen ihren Ort haben

Welchen zentralen Stellenwert das Herz tatsächlich einnimmt, zeigen auch weniger drastische Befunde als die bislang dargelegten. In seinem Roman Tristan (ca. 1215) lässt Gottfried von Straßburg die Liebenden ihre Herzen tauschen,10 und wenn er die menschlichen Qualitäten seines Publikums wie auch von Liebenden erörtert, spricht er von „edelen herzen“ – das Herz ist hier also pars pro toto für den ganzen Menschen.11
Medizinische, literarische, politische und religiöse Diskurse ranken sich um das Herzthema, und wie Gottfried greifen auch andere Autoren auf eine reiche Tradition zurück, die in die Antike zurückreicht und jüdische, griechische und römische, christliche und muslimische Stränge enthält. Schon in der hebräischen Bibel ist das Herz die Stätte, an der Empfindungen ihren Ort haben, Gedanken und Entschlüsse entstehen und der Charakter eines Menschen sitzt.12 Dass die Rabbiner über sechzig Gefühle im Herzen lokalisierten, zeigt, wie intensiv sie sich mit diesem Körperteil befassten. Nicht zuletzt zeugt eine solche Beschäftigung auch von dem immensen Respekt, der dem individuellen Menschen seit der Antike gezollt werden konnte.

Im Herzen sitzen – so meinte man – vielfältige menschliche Kräfte: die Seele, das Leben oder das Denk- und Gedächtnisvermögen, die personale Selbstbestimmung und Selbstverfügung,13 so dass das Herz eng verbunden mit dem lebendigen Zentrum der Person erscheint, wenn es nicht gar selbst deren Mittelpunkt darstellt. Stets ist es das menschliche Herz, das solche Aufmerksamkeit und Wertschätzung erfährt. Noch der Zedler – ein reichhaltiges Konversationslexikon aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts – widmet eine ausführliche Darstellung dem menschlichen Herzen, seiner Beschaffenheit, seiner Funktionsweise, seinen Lebensbewegungen und Lebensgeistern, seinem Charakter als perpetuum mobile und der ihm zugrunde liegenden göttlichen Weisheit. Zum „Hertz derer Thiere” informiert lakonisch erst ein eigener nachfolgender Artikel: „Ist einer harten und trockenen Natur, doch wann es wohl gekocht, so giebt es einen guten Nahrungs-Safft, und dessen nicht allein genug, sondern auch beständig.”

Das Herz im menschlichen Körper kann nicht nur für den Mikrokosmos des einzelnen Menschen stehen. Auch der Kosmos wird vielfach im Bild des menschlichen Körpers verstanden – wenn etwa in der Astrologie die Sonne dem Herzen zugeordnet ist.

Die Gesellschaft als Körper mit Kopf, Herz und Gliedern

Das Herz kann aber auch – und hier wird es besonders spannend – als Teil eines politischen Körpers angesehen werden. In solchen Vorstellungen, die es seit der Antike gibt, erscheinen die Gesellschaft und ihre Strukturen und politischen Machtverhältnisse als Bild eines menschlichen Körpers. Kopf, Herz und Glieder dieses Gesellschaftskörpers werden dabei in unterschiedliche Verhältnisse zueinander gestellt. Wie ihre Beziehungen jeweils bestimmt werden: Immer geht man bei diesem Bild davon aus, dass sie in einem organischen Zusammenhang miteinander verbunden sind. Sie stehen in einem „natürlichen” und notwendigen Verhältnis zueinander, das nicht aufgelöst werden kann, ohne dass der ganze Körper empfindlichen Schaden erleidet oder in seinem Leben bedroht ist.
Kein Teil einer solchen als Körper gedachten Gesellschaft sollte fehlen. Alle Teile sind wichtig und notwendig. Einige aber sind von ungleich vitalerer Bedeutung als andere. Das Herz wie der Kopf gehören zu diesen schlechthin unverzichtbaren Teilen. Aber sie sind nicht nur in besonderer Weise Sitz der lebendigen Kräfte, die diesen Gesellschaftskörper bewegen, sondern darüber hinaus auch der organisierenden Fähigkeiten, die ihn zusammenhalten, seine Aktivitäten zu sinnvollen Handlungen gestalten und Richtung, Rhythmus und Ziel seiner Bewegungen festlegen. Obwohl die Teile des Körpers auch in einem gleichberechtigten Nebeneinander gesehen und damit ihr freiheitliches Verhältnis zueinander betont werden kann, tritt vielfach das Herz mit dem Haupt in Konkurrenz darum, die verschiedenen Glieder dieses politischen Körpers zu beleben und zu regieren. Ob nun Herz oder Kopf der Vorzug gegeben wird – in jedem Fall stehen sie in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit in einem streng hierarchischen Verhältnis zum restlichen Körper.

Wer aber ist es, der als Herz oder Kopf herrscht und regiert? Aegidius Romanus etwa sah 1285 in Philipp dem Schönen, dem französischen Thronfolger, sowohl Herz als auch Haupt des königlich regierten Gesellschaftskörpers. Tolomeo von Lucca (1236-1326) hingegen, ein Verfechter kirchlicher Positionen, fand, dass die Funktion des Herzens im Sozialkörper dem Papst zuzusprechen sei. Man musste sich jedoch keineswegs für eine einzige regierende Macht im Gesellschaftskörper entscheiden: Ein anonymer Verfasser – Parteigänger Philipps des Schönen – sah 1302 den Papst als Kopf und zugleich den französischen König als Herz regieren, wobei er dem Herzen die maßgeblichere Funktion zusprach.

Das Herz als König des Körpers

Derartige politische Debatten konnten ihre Spuren auch in medizinischen Diskursen hinterlassen: Der Leibarzt Philipps des Schönen, Henri de Mondeville, beschrieb in seinem Traktat der Chirurgie (entstanden zwischen 1306 und 1320) das Herz als den König des Körpers, das aus dessen Zentrum heraus herrsche. Es befindet sich bei ihm im symbolischen Mittelpunkt des Körpers und führt allen anderen Gliedern lebensspendende Kraft zu. Das Herz wurde danach vor den anderen Teilen erschaffen und regiert über den ganzen Organismus, während andere „edle” Teile wie Gehirn und Leber nur über gewisse Teile desselben regieren, wie ein Feudalherr mit seiner lokal begrenzten Machtbefugnis. Die Mitglieder des Körpers helfen einander und gleichen Verletzungen und Schwächen gegenseitig aus. Alle Teile aber dienen letztlich dem Herrscher, dem Herzen.14

Ganz ähnliche Beziehungen zwischen Politik und Medizin sah noch dreihundert Jahre später William Harvey. In der Widmung seiner Schrift „Exercitatio anatomica de motu cordis et sanguinis in animalibus”(1628) an seinen König, Karl I. von England, empfahl er ihm – ganz in der Tradition mittelalterlicher Fürstenspiegel – das Studium des Herzens, weil es eine göttliche Ähnlichkeit mit den Handlungsweisen eines Königs aufweise. Das Herz sei das Fundament des Lebens, der Sonne eines Mikrokosmos vergleichbar; in derselben Weise sei der König die Grundlage des Königreichs, Herz des Commonwealth und Sonne, von der alle Macht und Kraft abstamme. In Harveys späteren Schriften (1649 und 1651), die erst nach der Hinrichtung des Königs entstanden sind, wird das Herz nebensächlich.15

Die politische Bedeutung des herrscherlichen Herzens

Diese herausragende Bedeutung herrscherlicher Organe allgemein und des Herzens im Besonderen lässt sich für die römisch-deutschen Kaiser seit Otto I., Otto III. und allen salischen Herrschern anhand der Bestattungsrituale belegen.16 Zwar geben schon ältere Erzählungen über die Beisetzung von Heiligen – wie etwa diejenige des heiligen Meinrad im Jahr 861 – Hinweise darauf, dass das Herz eines Verstorbenen schon früh vom übrigen Körper getrennt begraben wurde. Die medizinischen Gründe hierfür liegen auf der Hand, wenn man bedenkt, dass bisweilen Wochen, wenn nicht gar Monate zwischen Tod und Bestattung eines Menschen liegen konnten.17 Neuerdings möglich gewordene chemische Analysen haben gezeigt, dass der Körper des am 4. Dezember 1137 in Tirol verstorbenen Kaisers Lothar von Süpplingenburg zwischen fünf und sechs Stunden lang gekocht worden war, bevor man das Fleisch von den Gebeinen lösen und das Skelett einige Zeit später in Sachsen bestatten konnte.18 Doch lassen testamentarische Verfügungen wie diejenige Kaiser Heinrichs III. vermuten, dass Leib und Herz nicht nur aus hygienischen Erwägungen, sondern auch aus politischen Gründen voneinander getrennt werden konnten.19 Der Leib des Herrschers wurde in die Grablege seines Vaters nach Speyer überführt, das königliche Herz aber in Goslar verwahrt. Damit blieb das Herz über das Lebensende hinaus mit dem Ort verbunden, der dem Herrscher deswegen am Herzen liegen musste, weil die Pfalz im Zentrum sächsischer Macht stand. Heinrich III. hatte die Nachfolge als Sohn des Saliers Konrad II. angetreten, der seine Abstammung von den sächsischen Kaisern als Urenkel einer Tochter Ottos I. über die weibliche Linie ableitete und dessen salische Wurzeln die sächsischen Adeligen mit Misstrauen beäugten.20 Die politische Bedeutung des herrscherlichen Herzens hob schließlich bildhaft ein im 13. Jahrhundert geschaffenes Grabmal hervor,21 das die liegende Gestalt Heinrichs mit geöffneten Augen darstellte und Herz und Körper auf diese Weise symbolisch wieder zusammenfügte.22


Bildplatte auf der Tumba Kaiser Heinrichs III. in Goslar. Hier ruht seit dem Jahr 1056 das Herz des Herrschers. Sein übriger Leib wurde in Speyer neben seinem Vater Konrad II. beigesetzt.

Die so versinnbildlichte machtpolitische Bedeutung kaiserlicher und königlicher Herzen lässt sich aber nicht nur für das hohe Mittelalter konstatieren. Nachdem die Kaiserwürde dauerhaft an das Haus Habsburg übergegangen war, pflegten diese zunehmend die Sitte, die Leiber der Verstorbenen in der Kapuzinergruft zu bestatten. Die Herzen wurden hingegen im sogenannten „Herzgrüftl” in der Lorettokapelle der Augustinergruft verwahrt und die bei den Einbalsamierungen entfernten Eingeweide in der Fürstengruft bei St. Stephan in kupfernen Gefäßen aufgehoben. Die bis heute zu besichtigende Sammlung zählt insgesamt 56 Urnen, von denen eine auch die Intestinen des 1878 verstorbenen Erzherzogs Franz Carl enthält.23

“I have the heart and stomach of a king“ (Elizabeth I.)

Dass ein solches politisches Herz nicht ohne weiteres als geschlechtsneutral gelten konnte, machte die englische Königin Elisabeth I. sehr deutlich, als sie 1588 ihre Soldaten in den Kampf gegen die spanische Armada führte: „I know I have the body of a weak and feeble woman, but I have the heart and stomach of a king, and of a king of England too [...]”24. Auch in der Französischen Revolution war das Herz der Königin politisch, und es bildete die Zielscheibe politischen Handelns. Als am frühen Morgen des 6. Oktober 1789 eine bewaffnete Menge das Versailler Schloss stürmte, soll eine Frau geschrien haben, man solle „dem Weibsbild [Marie Antoinette] das Herz herausreißen, den Kopf abschneiden, ihre Leber rösten, und auch dann sei noch nicht alles vorbei.”25


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1 So der Titel eines Aufsatzes von Friedrich Ohly: Cor amantis non angustum. Vom Wohnen im Herzen, in: ders.: Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung. Darmstadt 1977, S. 128-155. Zugrunde liegt eine Stelle bei Augustinus, Sermo 23, zit. ebd. S. 135 und Anm. 10: Cor fidelis templum non angustum Deo.
2 Giovanni Boccaccio: Decamerone, IV,9.
3 Vgl. Le cœur mangé: récits érotiques et courtois des XIIe et XIIIe siècles. Mis en français moderne par Danielle Régnier-Bohler. Paris 1979.
4 William Shakespeare: Much Ado About Nothing, 4. Akt, 1. Szene.
5 Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz. Haus II, FY 10 270 R.
6 Vgl. Annerose Menninger: Die Kannibalen Amerikas und die Phantasien der Eroberer. Zum Problem der Wirklichkeitswahrnehmung außereuropäischer Kulturen durch europäische Reisende in der Frühen Neuzeit, in: Hedwig Röckelein (Hg.), Kannibalismus und europäische Kultur. (= Forum Psychohistorie; 6). Tübingen 1996, S. 115-141. Während die Geisteswissenschaftlerin Menninger m.E. mit guten Gründen die Fiktionalität der von hier herangezogenen Berichte belegen kann, arbeiten Naturwissenschaftler bereits seit längerer Zeit daran, Kannibalismus nachzuweisen. Bioarchäologen und Paläo-Anthropologen von der Arizona State University und der UC Berkeley haben mit eindeutig bearbeiteten Knochenresten erste Hinweise geliefert. Vgl. Bild der Wissenschaft, 3 (2000), S. 63-69. Auch der Artikel: „Mensch im Stuhl” im Berliner Tagesspiegel vom 7.9.2000 berichtet über Kannibalismus. Doch sollte bei aller Begeisterung für scheinbar unhintergehbare naturwissenschaftliche Ergebnisse, wie sie dem Artikel im Berliner Tagesspiegel zu entnehmen ist, das Wissen um die historische Bedingtheit naturwissenschaftlicher Erkenntnis nicht ver-gessen werden – erinnert sei hier nur an die Nachweise minderer Intelligenz von Schwarzen –, sondern durch seriöse Quellenkritik operationalisiert werden.
7 1672 soll im Haag das Herz von de Wit gefressen worden sein. Vgl. Heidi Peter-Röcher: Mythos Menschenfresser. Ein Blick in die Kochtöpfe der Kannibalen. München 1998, S. 67. Zu Berichten über Kannibalismus in der Neuen Welt vgl. Astrid Wendt, Kannibalismus in Brasilien. Eine Analyse europäischer Reisebereichte und Amerika-Darstellungen für die Zeit zwischen 1500 und 1654. Frankfurt/M. 1989.
8 Vgl. Franz-Joseph Post: Ritueller Kannibalismus, in: Thomas Beck u.a. (Hg.), Überseegeschichte. Beiträge der jüngsten Forschung. Stuttgart 1999, S. 76-86, bes. S. 83.
9 Pierre Clastres: Chronique des Indiens Guayaki, Paris 1972; zitiert nach: Jacques Attali, Die kannibalische Ordnung. Von der Magie zur Computermedizin. Frankfurt/M. 1981, S. 24 ff.
10 Das Motiv des getauschten Herzens kommt in der mittelalterlichen Literatur häufig vor. Vgl. etwa: Hartmann von Aue: Iwein, V. 2987-3023, Erec, V. 2363-2367. Der Tausch der Herzen hat auch in mystischen Erlebnissen, die von weiblichen Heiligen und Nonnen überliefert werden, einen zentralen Stellenwert. Vgl. dazu Judith C. Brown: Schändliche Leidenschaften. Das Leben einer lesbischen Nonne in Italien zur Zeit der Renaissance. Stuttgart 1988, S. 71ff.
11 Klaus Speckenbach: Studien zum Begriff &Mac226;edelez herze‘ im Tristan Gottfrieds von Straßburg. (= Medium Aevum 6). München 1965. – Vgl. ferner Sabine B. Spitzlei, Erfahrungsraum Herz. Zur Mystik des Zisterzienserinnenklosters Helfta im 13. Jahrhundert. (= Mystik in Geschichte und Gegenwart. Texte und Untersuchungen: Abt.1; 9). Stuttgart/Bad Cannstatt 1991; Gerhard Bauer: Claustrum animae. Untersuchungen zur Geschichte der Metapher vom Herzen als Kloster. Bd. 1: Entstehungsgeschichte. München 1973 (mehr nicht ersch.); August Langen: Der Wortschatz des deutschen Pietismus. 2. erg. Aufl. Tübingen 1968 (Register).
12 Ähnliches gilt für das alte Ägypten, wie die besondere Behandlung des Herzens bei der Mumifizierung zeigt.
13 Etwa bei Petrus Johannes Olivi und Raimundus Lullus: Hier ist das Herz der Ort des freien Wollens.
14 Rainer Guldin: Körpermetaphern. Zum Verhältnis von Politik und Medizin. Würzburg 2000, S. 54-66, bes. S. 60-66; ferner Tilman Struve: Die Entwicklung der organologischen Staatsauffassung im Mittelalter. (= Monographien zur Geschichte des Mittelalters; 16). Stuttgart 1978, wo u. a. der wichtige muslimische Autor al-Farabi dargestellt ist (71-98).
15 Guldin S. 86f; Christopher Hill: William Harvey and the Idea of Monarchy, in: Past and Present 27 (1964), S. 54-72.
16 Vgl. Joachim Ehlers: Grablege und Bestattungsbrauch der deutschen Könige im Früh- und Hochmittelalter, in: Jahrbuch Braunschweigische Wissenschaftliche Gesellschaft (1989). Göttingen 1990, S. 39-74, S. 39.
17 Vgl. Rudolf J. Meyer: Königs- und Kaiserbegräbnisse im Spätmittelalter. Von Rudolf von Habsburg bis zu Friedrich III., Wien 2000, bes. S. 210-213. Meyer datiert den Brauch der separaten Herzbestattung auf die Zeit der Kreuzzüge, weil es notwendig war, die leicht verwesenden Körperteile von den haltbareren zu trennen.
18 Vgl. Ehlers: Grablege, S. 40.
19 Vgl. M. von Salis-Marschlins: Agnes von Poitou, Kaiserin von Deutschland. Eine historisch-kritisch-psychologische Abhandlung. Zürich 1887, S. 47. Der Körper Heinrichs III. wurde aus Gründen der Memoria nach Speyer überführt, wo er neben seinem Vater, Konrad II., begraben wurde, vgl. Franz-Reiner Erkens: Konrad II (um 990-1039). Herrschaft und Reich des ersten Salierkaisers. Regensburg 1998, S. 214.
20 Vgl. Ernst Schubert: Stätten sächsischer Kaiser. Leipzig 1990, S. 26-30.
21 Vgl. Ehlers: Grablege, S. 56.
22 Etwa zur selben Zeit (am Ende des 13. Jahrhunderts) erließ Papst Bonifaz VIII. ein Gesetz gegen die Zerteilung von Körpern und forderte, dass der unversehrte Körper im Ganzen nahe dem Ort des Todes bestattet werde. Vgl. Caroline Walker Bynum: Fragmentierung und Erlösung, Geschlecht und Körper im Glauben des Mittelalters. Frankfurt/M. 1996, bes. S. 253.
23 Ob das Herz Rudolfs von Habsburg bereits separat bestattet wurde, lässt sich nicht mehr nachweisen. Entsprechende Berichte entstammen einer späteren Zeit, vgl. hierzu Rudolf J. Meyer: Königs- und Kaiserbegräbnisse, S. 213. Zu den Begräbnisritualen der Habsburger vgl. Sylvia Mattl-Wurm: Wien, wo der Tod auch nicht mehr heimisch ist, in: Bilder vom Tod. 168. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien, 1993, S. 59f.
24 Dazu Carole Levin: The Heart and Stomach of a King. Elizabeth I and the Politics of Sex and Power. (= New Cultural Studies). Philadelphia 1994, 144; Marie Axton: The Queen’s Two Bodies. Drama and the Elizabethan Succession. (= Royal Historical Society Studies in History). London 1977; vgl. Constance Jordan: Women’s Rule in Sixteenth-Century British Political Thought, in: Renaissance Quarterly 40 (1987),S. 421-451.
25 Gisela Bock: Frauen in der europäischen Geschichte. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. (= Europa bauen). München 2000, S. 61; vgl. ferner Robert A. Erickson: The Language of the Heart, 1600-1750. (= New Cultural Studies). Philadelphia 1997.

Literatur

Bauer, Gerhard: Claustrum animae. Untersuchungen zur Geschichte der Metapher vom Herzen als Kloster, Bd. 1: Entstehungsgeschichte. München 1973.

Bynum, Caroline Walker: Fragmentierung und Erlösung, Geschlecht und Körper im Glauben des Mittelalters. Frankfurt/M.1996.

Le cœur mangé: récits érotiques et courtois des XIIe et XIIIe siècles. Mis en français moderne par Danielle Régnier-Bohler. Paris 1979.

Ehlers, Joachim: Grablege und Bestattungsbrauch der deutschen Könige im Früh- und Hochmittelalter. In: Jahrbuch Braunschweigische Wissenschaftliche Gesellschaft (1989). Göttingen 1990, S. 39-74.

Erickson, Robert A.: The Language of the Heart, 1600-1750. (= New Cultural Studies). Philadelphia 1997.

Guldin, Rainer: Körpermetaphern. Zum Verhältnis von Politik und Medizin. Würzburg 2000.

Levin, Carole: The Heart and Stomach of a King. Elizabeth I and the Politics of Sex and Power. (= New Cultural Studies). Philadelphia 1994.

Ohly, Friedrich: Cor amantis non angustum. Vom Wohnen im Herzen; in: ders., Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung. Darmstadt 1977, S. 128-155

Peter-Röcher, Heidi: Mythos Menschenfresser. Ein Blick in die Kochtöpfe der Kannibalen. München 1998.

Röckelein, Hedwig (Hg.): Kannibalismus und europäische Kultur. (= Forum Psychohistorie, 6). Tübingen 1996.

Spitzlei, Sabine B.: Erfahrungsraum Herz. Zur Mystik des Zisterzienserinnenklosters Helfta im 13. Jahrhundert (= Mystik in Geschichte und Gegenwart. Texte und Untersuchungen: Abt. 1; 9). Stuttgart/Bad Cannstatt 1991.